BACK TO THE ROOTS. Reena Kallat & Melanie Siegel im Kunstverein Reutlingen

Im Kunstverein Reutlingen ist vor kurzem die Ausstellung "Back to the Roots" von Reena Kallat und Melanie Siegel angelaufen. Wir haben sie besucht und stellen Euch die Ausstellung hier vor.

Der Kunstverein Reutlingen zeigt in einer ersten großen Doppelausstellung Arbeiten der indischen Künstlerin Reena Kallat neben Werken der Münchner Malerin Melanie Siegel in Deutschland. Beide Künstlerinnen beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Fragen und ökologischen Krisen, wobei sie auf ganz unterschiedliche künstlerische Medien zurückgreifen. Es entsteht ein spannungsreicher Dialog aus verschiedenen Blickwinkeln und Materialien, kuratiert von der Leiterin des Kunstvereins Julia Berghoff, Gründungsmitglied von Kune. Die Konzeption war für sie ein Rückbezug als Kunsthistorikerin.

Linien und Grenzen

Elektrischer Draht kommt häufig in Reena Kallats (*1973, Delhi) Werken vor, es ist für sie ein Symbol für Kontakt und ebenso Kanal für Energie. Indem Kallat ihn zu Stacheldraht formt, weist sie auf Widerstände, Barrieren, gezogenen Linien und Grenzen hin. Ihre Werke nehmen die Auswirkungen oftmals willkürlich gezogener Grenzen und deren Folgen für den Menschen und die Umwelt in den Blick. Dabei legt Kallat auch einen besonderen Fokus auf Flüsse, energetisch fließend mit sowohl trennenden wie verbindenden Eigenschaften.

Reena Kallat: Leaking Lines (2019) und River Boundaries Break the Sound of Silence Between Them (2023). Ausstellungsansicht. Foto: Kunstverein Reutlingen.

Leaking Lines (2019) zeigt den Verlauf von Grenzlinien aus aller Welt, Seite an Seite mit Bildern der Landschaften, die sie trennen und verbinden. Die gezogenen Linien, umgeben von Stacheldraht, sprechen nur zu deutlich von jahrzehntelangen Konflikten und Kriegen. River Boundaries Break the Sound of Silence Between Them (2023) dagegen zeichnet die Grenzen zwischen Ländern nach, die über die Nutzung ihrer gemeinsamen Flussgewässer streiten. Die Linien stehen hier gleichzeitig für eine Verbindung und eine gezogene Grenze. Kallat ordnet die politischen Grenzlinien neu zu einer freieren Topographie, einem frei fließenden Fluss.

Reena Kallat: Verso-Recto-Recto-Verso (2017-2019) und Woven Chronicle (2022). Ausstellungsansicht. Foto: Kunstverein Reutlingen.

Unter die Haut

Ästhetisch und eindringlich. Reena Kallats Werke gehen unter die Haut und dies im wahrsten Sinne des Wortes: Julia Berghoff hatte zur Ausstellungseröffnung immer noch Kratzer vom Aufbau der Ausstellung. Kallat verwendet in ihrer Arbeit Woven Chronicle (2022) elektrische Leitungen wie Garn und zeigt unsere vernetzte Welt, die dennoch voller Grenzen ist. Woven Chronicle ist eine Reihe von Wandzeichnungen, welche Reena Kallat seit 2011 mit unterschiedlichen Inhalten realisiert. Die Installation zeigt die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Umwelt mithilfe eines Farbcodes, der den ökologischen Fußabdruck jedes Landes darstellt.

Melanie Siegel: o.T. (Platz 1) (2023) und o.T. (2019/2021). Ausstellungsansicht. Foto: Rebecca Rapp.

Vision und Realität

In den Werken der Münchner Malerin Melanie Siegel (*1978, Freiburg i. Br.) sehen wir urbane Landschaften. Wir schauen auf einen Pool unter Palmen, leere Sport- oder Tennisplätze, Sitzgelegenheiten in Grünanlagen – es sind Orte der Reichen, Wohlstandsymbole. Und doch sind es seltsam zeitlose Orte, es wirkt als stünde die Zeit still, ein eingefrorener Moment. Alles ist perfekt drapiert, platziert und zugleich so oberflächlich. Geordnet und vorbereitet. Alles ist leicht entfremdet, wir sind auf Distanz und unbeteiligte:r Beobachter:in dieser eigentümlich sanft und kühl wirkender Szenen. Auch wir als Betrachter:innen sind eingezäunt, es sind stets begrenzte Szenen – anders als in der klassischen Landschaftsmalerei ist ein Ausblick nicht möglich. Meist aus der Vogelperspektive schauen wir, beinahe schon überwachend, auf die fremdartige, modellhafte Szenerie. Orte zwischen Vision und Realität, Utopie und Dystopie. Die Natur ist Teil davon, perfekt drapiert und so weit wie möglich zurückgedrängt, eingezäunt und verwaltet. Doch sie drängt auf ein Zurückkommen. Wenn auch in kleinen Schritten versucht sie ihre Grenzen zu überwinden, die Ordnung zu durchbrechen.

Melanie Siegel: o.T. (Tor) (2019), o.T. (2018) und o.T. (Die Runde) (2020). Ausstellungsansicht. Foto: Rebecca Rapp.

Ein neuer Blick

Beide Künstlerinnen spielen mit bewusster Entfremdung, Grenzlinien, Trennung und motivieren uns das Verhalten der westlichen Wohlstandbevölkerung sowie ihrer Auswirkungen zu hinterfragen. Beide untersuchen globale gesellschaftliche Fragen und ökologische Krisen aus verschiedenen Blickwinkeln. Ein spannungsreicher Dialog entsteht zwischen Reena Kallats aus Kabeln geknüpfte Stacheldrahtarbeiten und Melanie Siegels gemalten urbanen Landschaften.

Die Ausstellung ist noch bis zum 17. März 2024 in den Reutlinger Wandelhallen zu sehen. Nutzt die Chance und schaut es euch an, es lohnt sich.