Yvonne Kendall. The Common Thread

Wohin mit all den Gedanken? Soll ich schreiben, malen, singen oder tanzen? Für die Künstlerin Yvonne Kendall kommen diese Optionen nicht in Frage. Sie bringt ihre Überlegungen mit Skulpturen, Installationen sowie Collagen zum Ausdruck und zeigt diese aktuell im Künstlerbund Tübingen.   

Wohin mit all den Gedanken? Soll ich schreiben, malen, singen oder tanzen? Für die Künstlerin Yvonne Kendall kommen diese Optionen nicht in Frage. Sie bringt ihre Überlegungen mit Skulpturen, Installationen sowie Collagen zum Ausdruck und zeigt diese aktuell im Künstlerbund Tübingen.   

Die Arbeiten behandeln Themen aus Umwelt, Naturschutz, Politik und Gesellschaft und greifen dabei aktuelle Begebenheiten auf. Yvonne verarbeitet mit einem philosophischen Blick ihr direktes und indirektes Umfeld im Machen ihrer Arbeiten. Dabei setzt sie bekannte Alltagsgegenstände neu zusammen und macht Bildwelten auf und fordert die Betrachter:innen zu neuen Blickweisen auf.  

Die Ausstellung „Yvonne Kendall. The Common Thread“ im Künstlerbund Tübingen

In der Ausstellung „The Common Thread“ sind Collagen exponiert, die aus alten Landkarten und Fotobüchern gefertigt wurden. Die Blätter wurden herausgetrennt und mit Symbolen oder geometrischen Formen bestickt – die Bestickung zeigt meist eine Hand, die auf Krisengebiete zeigt oder auf Länder, deren politische Situation problematisch ist oder die von Umweltkatastrophen heimgesucht wurden. 

Das Motiv der Hand finden wir auch in der Serie mit den Landkarten und in der Serie „Lessons from Art History“. Hier werden Reproduktionen von van Gogh, Manet und anderen collagiert und die Motive, welche wir aus der Kunstgeschichte sehr gut kennen, mit dem Motiv der Hand erweitert. Diese Hand beschützt, gibt Halt und formt.  

Die Collagen helfen Yvonne Kendall aktuelle Gegebenheiten innerlich zu verarbeiten und ihrer Stimmung Ausdruck zu verleihen. 

Das Fenster als Leitmotiv

Das kunsthistorisch bekannte Motiv des Fensters finden wir in einigen Werken der Ausstellung wieder. Das Fenster als Metapher, Modell und Leitmotiv der Kunstgeschichte: Es zeigt die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen Wirklichkeit und Illusion, zwischen realer und imaginärer Welt. Das Motiv des Fensters wird in der Romantik zum Ende des 19. Jahrhundert zum essentiellen Bildthema. Es wird als Symbol der menschlichen Situation verstanden und das „Bild-im-Bild-Motiv“ findet großen Anklang. Die Fenster entscheiden über die Stimmungen, Situation und deren Abbildbarkeit. In der Moderne löst die Leinwand das Bild als Fenster in die Welt ab und wird durch Marcel Duchamp letztendlich durch ein reales Fenster ersetzt. Nun sind Betrachter:innen in der Lage selbst durch das Fenster zu sehen, wodurch sich neue Themenfelder und Auseinandersetzungen eröffnen.   

 Yvonne Kendall nutzt das Motiv des Fensters, um einen imaginären Raum zu schaffen, und beschäftigt sich darin mit den Themen der Form, des Lichts und der Wahrnehmung der Zeit: Die Werkgruppe „The Shape of Rain“ besteht aus einer Collage sowie einer Installation.  

In der Installation löst sich die Grenze zwischen Bildraum und Betrachter:innenraum. Plötzlich befinden wir uns mittendrin! Wir sehen ein altes Sprossenfenster aus Holz, an dem der weiße Lack schon an einigen Stellen abgeplatzt ist. An anderen Stellen ist noch ein alter grüner Lack sichtbar. Das Fenster ist direkt an der Wand des Ausstellungsraums befestigt und steht da mittendrin. Wo ist innen, wo ist außen? Am oberen rechten Fenster verlaufen grüne Fäden von oben nach unten. An der unteren rechten Scheibe wurde der Faden zu geometrischen Formen gespannt. Das linke Fenster daneben weist ebenso Spuren auf: Dies sind die Klebereste, die bereits am objet trouvé waren. Allein das linke obere Fenster weist keine Elemente auf, da es hier keine Scheibe mehr gibt. Besonders spannend an dieser Arbeit ist, dass der Faden am unteren Fensterrand weiterfließt, und zwar direkt in eine Emaille-Schüssel, die in dem imaginären Raum steht, zu dem das Fenster gehört. Der Faden symbolisiert den Regen.  

Yvonne Kendall
Yvonne Kendall. The Shape of Rain. Detail- und Ausstellungsansicht „Yvonne Kendall. The Common Thread“ im Künstlerbund Tübingen, 2023.
© Yvonne Kendall

Betrachtende können sich um die Installation herumbewegen und sie von verschiedenen Seiten anschauen. So geht der Blick mal von innen nach außen, mal von außen nach innen. Auch wenn wir uns hier architektonisch gesehen in einem geschlossenen Innenraum befinden, assoziiert die Installation das Gefühl des Innen-/Außenseins. Ist es voyeuristisch, wenn wir hineinschauen? Geben wir von innen etwas preis, wenn wir den Blick von außen erlauben? Beobachten wir heimlich von innen das Äußere?   

Vom Objekt zur Collage

In der Collage „The Shape of Rain“ bediente sich Yvonne an einer Postkarte von Johann Christian Claußen Dahl. Sein „Blick aus dem Fenster auf Schloss Pillnitz an der Elbe“ von 1823 bekam von Yvonne eine Vollendung. Denn hier finden wir das Sprossenfenster aus der Installation wieder. Nur hier ist es vollständig mit allen vier Scheiben und es regnet nicht rein – oder vielleicht doch, wenn man dem Weg der Fäden folgt. 

Yvonne Kendall. The Shape of Rain. © Natalie Savas

Die Motive fließen ineinander

Für Yvonne stellt die Fenstersituation ihr Atelierfenster dar. Es offenbart ihr den Blick nach außen, aber der Regen von außen kommt in ihr Atelier rein, da die Gummidichtung falsch installiert wurde und alles, was von außen kommt fließt in eine Schale und wird dort eingefangen. Es kann auch mal etwas überlaufen oder daneben fließen.  

Ebenso werden in dieser Arbeit die Gedanken rund um den Klimawandel für die Betrachter:innen erfahrbar gemacht. Das Außen, also der Regen, drängt sich in das Innere, also den Atelierraum, hinein. Der Klimawandel wird in dieser Arbeit ästhetisch und künstlerisch dargestellt. Es kommt die Frage auf, was kann jede und jeder einzelne von uns unternehmen?   

Doch nicht nur der Klimawandel ist Thema der Arbeit. Auch Zeit spielt eine Rolle. Die Arbeit entstand während der Corona-Pandemie. Mit dem Aufkommen der Lockdowns haben wir ein neues (Frei-)Zeitkontingent erfahren. Plötzlich hatten alle das Gefühl, dass sie zu viel Zeit haben und nicht wussten, was sie mit all der Zeit anfangen sollten. Also saß man da und schaute hinaus in die Welt, die sich vor dem Fenster abspielte.   

Nicht nur die Situation war niederschmetternd, auch die Materialverfügbarkeit war sehr eingeschränkt. So musste Yvonne mit den Objekten arbeiten, die sie entweder noch im Atelier hatte oder sich darauf verlassen, was Freunde und Freundinnen, Bekannte oder die Familie gaben. So wurden aus Alltagsgegenständen, die in einem nicht-künstlerischen Kontext standen, Materialien wertvoller Kunstobjekte. 

Bezug zu Wasser

„The Shape of Rain“, „Over Spill“, „Cloudburst“, „Cascade“ und „Rain“ sind Titel, die sprachlich einen Bezug zu Wasser herstellen. Doch was sehen wir? Heruntergebrochen sehen wir Siebe, Fenster, Schüsseln und Garne, die aus den Behältnissen herunterhängen, herausfließen oder durch sie hinaustreten. Und weil wir nun einmal gelernt haben, Abbildungen von etwas zu sehen, zu erkennen und zu deuten, verknüpft unser Gehirn diese visuellen Reize mit der Assoziation des Wassers, des Regens.   

Das Element Wasser kommt nicht nur in den hängenden Skulpturen vor, sondern auch in den Collagen mit den Fotografien aus Alhambra und dem Taj Mahal. Wasser ist das Element, welches reinigt und klärt. Im Reinigungs- und Klärungsprozess bietet es die Möglichkeit, zu verstehen oder Dinge und Zustände bewusst zu machen. Die aufgenähten Motive von Händen und Füßen schaffen eine weitere Dimension im Bild und lassen die Räume lebendig werden. 

Verwirren – Entwirren – Verwirren 

Als Yvonne die Fäden erhielt, waren sie zu einem riesigen Büschel verknotet. So saß sie mühevoll und stundenlang da und entknotete den Faden. Die Arbeit ließ Zeit für Gedanken zu und hatte auch etwas Meditatives. In diesen Arbeiten visualisiert der Faden den Regen. Er verläuft kerzengerade von oben nach unten. Am Boden liegt der Faden mal auf, mal fließt er weiter wie ein Rinnsal oder er sammelt sich in der sich auf dem Boden befindenden Schale. In der Schale verknotet sich der entwirrte Faden wieder und nimmt dann seine ursprüngliche Form, die er zu Beginn der Arbeit hatte, an.  

Yvonne Kendall
Yvonne Kendall. Rain. Detail. © Yvonne Kendall

Das Individuum im Nachrichtenteich 

In „Over Spill“ wird der Überfluss an Informationen sichtbar gemacht. Es fließt alles über und wir als Individuum müssen aus der Masse die Wahrheit herausfiltern und den Rest, gar die Unwahrheiten, ablaufen lassen. 

Vom Material und der Materialität  

Wenn Yvonne eine Arbeit aufnimmt, hat sie davor meist kein striktes Konzept und so gibt sie sich und dem Werk die Möglichkeit, im Entstehungsprozess zu entstehen, sich zu formen und zu bilden. So werden aus alten Sieben Wolken, aus silberfarbenen Garnen ein schimmernder Regen und aus alten Fenstern entstehen neue Bildwelten.  

Als Betrachter:in können wir den Gedanken des Formens und Bildens in uns tragen, um uns besser mit den Werken auseinanderzusetzen und um sie besser zu verstehen. 


Die Ausstellung läuft noch bis zum 9. Dezember 2023.  

Am 2. Dezember 2023 um 11 Uhr wird ein Artist Talk stattfinden. Es ist keine Anmeldung notwendig. Darüber hinaus haben die Besucher:innen während der Öffnungszeiten immer samstags die Möglichkeit, mit Yvonne Kendall ins Gespräch zu kommen.   

Im Rahmen der Ausstellung kann der Katalog „The Shape of Rain“ mit Texten von Martina Köser-Rudolph erworben werden. Dieser liefert noch weitere wertvolle Gedanken zu Yvonne Kendalls Collagen und Skulpturen.  


Informationen und Öffnungszeiten  

Künstlerbund Tübingen 
Metzgergasse 3  
72070 Tübingen  

Öffnungszeiten: Do & Fr 16–19 Uhr, Sa 11–14 Uhr