The Beginning Of Something Else – Wolfgang Laib im Kunstmuseum Stuttgart

Reis, Wachs und Blütenstaub – Wolfgang Laib schafft fragile Installationen aus Naturmaterialien. Der international gefeierte Künstler stellt bis Oktober 2023 im Kunstmuseum Stuttgart aus.

Der in Baden-Württemberg geborene Künstler Wolfgang Laib ist der internationalen Kunstszene mit seinen Installationen aus Wachs, Blütenstaub und Naturmaterialien schon lange ein Begriff. Er stellt im New Yorker MoMa aus, bereist die Welt und seine Werke sind bis Anfang November nun auch im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen. Unsere Autorin Sonia Diemunsch war bei einer Pressekonferenz mit Ausstellungsbesuch vor Ort.

Los geht es im dritten Stock des Kunstmuseums – für regelmäßige Gäste ungewöhnlich, aber die Wechselwirkung zwischen dem Werk, den Betrachtenden und der Umgebung soll bewusst in einem großen, weiten Raum beginnen. Wir sollen die räumliche Erfahrung machen, durchschreiten und dem Kunstwerk begegnen. 

Die Texte an der Wand sind in dezentem Ton gehalten, um das Erleben nicht zu stören. Das Reisfeld, bestehend aus Tausenden von Reishäufchen, erstreckt sich über den gesamten Raum, dazwischen ragen zwei Treppen und eine Zikkurat in die Höhe – deren Form und Bezeichnung von den gestuften Tempeltürmen in Mesopotamien stammen.

Der Raum ist weitläufig und von jeder der drei zugänglichen Seiten ergibt sich ein neues Bild, ein neuer Blickwinkel. Geht man in die Hocke und betrachtet die Installation aus Bodennähe, scheint sich das Reisfeld bis zum Horizont zu erstrecken und in der Ferne, zwischen den akkurat aufgereihten Reishäufchen, erheben sich die mit burmesischem Lack behandelten Skulpturen.

Ausstellungsansicht „The Beginning of Something Else. WOLFGANG LAIB“ im Kunstmuseum Stuttgart, Foto: Sonia Diemunsch.

Proust’sche Gerüche in einer Stadt aus Wachs

Nicht nur Reis und Skulpturen, auch Zeichnungen des Künstlers, Skulpturen aus Wachs, ein Milchstein und ein Feld aus Blütenstaub sind Teil der Ausstellung. Das Zusammenspiel von Raum, Form und Sinnen kann zwar beschrieben, muss aber selbst erlebt werden. Die Intensität, mit der uns in der Stadt des Schweigens der Geruch nach frischem Bienenwachs trifft, erinnert an die wohl berühmteste Szene aus Prousts Werk, in welcher der Erzähler durch das Kosten einer Madeleine unwillkürlich in seine Kindheit zurückversetzt wird. Wer auf einem Handwerksmarkt oder um die Weihnachtszeit schon einmal in den Genuss einer Kerze aus echtem Bienenwachs gekommen ist, wird den Duft in der Stadt des Schweigens wiedererkennen und sich unwillkürlich dorthin zurückversetzt fühlen.

In dem hohen, weißen Raum imponiert nicht nur der Geruch. Auch die hüfthohen Skulpturen selbst – Türme und Häuser, die durch ihre zweidimensionale Form ebenfalls ganz vage die Assoziation mit Weihnachtsgebäck und Lebkuchenhäusern wecken, füllen den Raum und ziehen den Blick der Besuchenden auf sich. Die Stadt des Schweigens lädt genau dazu ein, was ihr Titel ausdrückt: in einem kathedralenähnlichen Raum ganz still und ganz für sich umherzugehen und die Kunst sprechen zu lassen.

Ausstellungsansicht „The Beginning of Something Else. WOLFGANG LAIB“ im Kunstmuseum Stuttgart, Foto: Sonia Diemunsch.

Die Befüllung des Milchsteins

Es herrscht Stille in der bis dato gesprächigen Gruppe, als der Künstler seine Schuhe abstreift und anfängt, die Milch in die Vertiefung des Marmorblocks zu gießen. Er nimmt sich Zeit, scheint zu vergessen, dass der Raum um ihn herum voll ist von Menschen, die nur auf ihn schauen, erleben wollen, was er erschafft. Die sich vielleicht eine Erklärung erhoffen oder bereits über die Fragen nachdenken, die sie ihm später stellen wollen. Doch während der Befüllung des Milchsteins scheint die Zeit stillzustehen. Wolfgang Laib blickt nicht auf, nimmt sich Zeit, geht mehrmals um den Stein herum, streicht mit den Fingern die Milch auf den trockenen Stein, bis sich nach und nach die gesamte Oberfläche füllt und eine spiegelnde Fläche entsteht, eine Symbiose aus fest und flüssig. Mit einem bescheidenen „fertig“ konstatiert er die Vollendung seines Werks und nimmt sich auch jetzt wieder die Zeit, langsam und konzentriert seine Schuhe anzuziehen.

Ausstellungsansicht „The Beginning of Something Else. WOLFGANG LAIB“ im Kunstmuseum Stuttgart, Foto: Sonia Diemunsch.

Nachhaltigkeit und Respekt für Ressourcen 

Die scherzhaft gestellte Frage, was denn die junge Generation zur Verwendung von Wachs, Pollen und Milch sage, führt schnell zu einem ernsthaften Gespräch in der Gruppe. Denn die Lebensgrundlage der Tiere will respektiert werden, die Natur wird nicht mehr als etwas gesehen, an dem der Mensch sich bedienen kann, wie es ihm beliebt. Unter anderem aus diesen Gründen hat sich das Kunstmuseum Stuttgart entschieden, den Milchstein nicht jeden Tag, sondern nur zu bestimmten Terminen zu befüllen. 

Auch dem Künstler selbst ist die Knappheit und der Wert seiner Ressourcen bewusst: Während das Wachs für die Skulpturen aus einer regionalen Imkerei stammt, sammelt Wolfgang Laib jedes Pollenkorn selbst – auf Löwenzahnwiesen und in Kiefernwäldern in der Nähe seines Wohnsitzes in Baden-Württemberg. Die Schwankungen des Klimas haben spürbare Auswirkungen für ihn: Durch die intensiven Trockenperioden verkürze sich die Blütezeit der Pflanzen und das Zeitfenster, in dem er den Pollen sammeln kann, enorm. Wenn Wolfgang Laib über „seinen“ Pollen spricht, schwingt etwas wie Sorge und ein gewisser Beschützerinstinkt mit. Es sei ein Zeichen von großem Vertrauen, wenn er das Produkt seiner wochen- und monatelangen Arbeit einem Museum überlässt. An Verschwendung ist nicht zu denken, denn vor und nach jeder Ausstellung wird der Pollen gesiebt und gewogen: 1,3 Prozent Verlust an Pollen musste der Künstler nach einer vorausgehenden Ausstellung in Frankreich verzeichnen – was er nicht ohne ein gewisses Bedauern erzählt. Auch das Wachs, der Reis und die übrigen Naturmaterialien werden nach dem Ende der Ausstellung wiederverwendet.

Ausstellungsansicht „The Beginning of Something Else. WOLFGANG LAIB“ im Kunstmuseum Stuttgart, Foto: Sonia Diemunsch.

Milch und Reis als Opferritual 

Milch und Reis sind zentrale Symbole in zahlreichen Kulturen und Religionen der Welt. Auf seinen Reisen lernt Wolfgang Laib ebendiese Kulturen und Religionen kennen, beschäftigt sich intensiv mit ihnen und setzt die Eindrücke in seinem Werk um. Die Frage, warum er genau diese Materialien nutze, sei eine typisch europäische. In Asien, wo die religiöse Opfergabe von Speisen weit verbreitet ist, verstünden die Menschen die Wahl der Materialien sofort. 

Ausstellungsansicht „The Beginning of Something Else. WOLFGANG LAIB“ im Kunstmuseum Stuttgart, Foto: Sonia Diemunsch.

Kunst bedarf keiner Erklärung

Auf die Frage nach etwaigen Absichten hinter seinen Werken reagiert Wolfgang Laib nicht. Die Kunst müsse ohne seine Erklärung auskommen, sie könne nicht erklärt werden, das sei nicht das Ziel. Kunst sei für jetzt, aber auch für die Zukunft, und habe gleichzeitig etwas mit Dingen zu tun, die vor 5000 oder 10.000 Jahren passierten. Auch wenn Wolfgang Laib seine Kunst nicht erklären möchte, empfinde er es als sehr schön und bewegend, zu sehen, wie Menschen von seinen Werken berührt werden – beispielsweise von der Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit des Blütenstaubs.

Wolfgang Laib im Kunstmuseum Stuttgart, Foto: Sonia Diemunsch.

Rund um die Ausstellung

Im Rahmen der von der Baden-Württemberg Stiftung geförderten Ausstellung erschien das gleichnamige Buch Wolfgang Laib. The Beginning of Something Else, in welchem zum ersten Mal alle Texte und Bilder gesammelt sind, die den Künstler geprägt haben. Auch hier werden die Sinne der Lesenden angesprochen: Die Texte sind neben ihrer deutschen Übersetzung zunächst in der chinesischen oder griechischen Originalsprache gedruckt. Zum ersten Mal wurde im Rahmen der Ausstellung auch ein Film gedreht: für Wolfgang Laib – Here, now and far beyond begleitete Maria Anna Tappeiner den Künstler ein Jahr lang bei seiner Arbeit und hielt Szenen im Verlauf der Jahreszeiten fest. Die Premiere findet am 19. Juli um 19 Uhr im Rahmen des HMF-Sommerfestivals statt, auch im Kunstmuseum wird der Film zu sehen sein. Einer von weltweit sieben Wachsräumen des Künstlers ist seit 2005 im Untergeschoss des Kunstmuseums Stuttgart zu sehen. Besuchende können die Befüllung des Milchsteins an mehreren Sonntagen jeweils um 11 Uhr erleben: 9. Juli 2023, 20. August 2023, 17. September 2023, 1. Oktober 2023 und 22. Oktober 2023.