Zeitgenössische Kunst, die erst auf den zweiten Blick ihre Geheimnisse verrät, gibt es zur Zeit im Schauwerk Sindelfingen in der Ausstellung „UNTIEFEN. Werke aus der Sammlung Schaufler“ zu entdecken.
In der Ausstellung UNTIEFEN zeigt das Museum noch bis zum 20. August 2023 Kunstwerke von Erwin Wurm, Brigitte Kowanz, Robert Longo, Anselm Kiefer und weiteren 15 nationalen und internationalen Künstler:innen aus der Sammlung der Museumsgründer:innen Peter Schaufler und Christiane Schaufler-Münch. Zu sehen sind Plastiken, welche die Größe der ehemaligen Fertigungshalle nutzen, wie etwa die pastellfarbigen Raketen in Rot- und Violetttönen im Werk „First Spaceship to Venus (14)“ von Sylvie Fleury. Aber auch subtilere Werke, wie die Fotoreihe „Painting flowers“ des Japaners Nobuyoshi Araki können mit den Augen erforscht werden. Dieser gibt durch eine Bemalung Blüten eine weitere Dimension. Die Malerei ist farbenreich unter anderem durch Katharina Grosse und John M Armleder vertreten. Die großformatigen, fotorealistischen, schwarzweißen Zeichnungen des Amerikaners Robert Longo ziehen aber besonders in ihren Bann.
Stille Wasser sind tief – Untiefen bei Richard Longo
Mit fünf Werken ist Robert Longo am prominentesten in der Ausstellung vertreten. Das Schauwerk Sindelfingen wirbt auch für „Untiefen“ mit seiner großformatigen Zeichnung „Ohne Titel (Black Water)“. Das fotorealistische Werk zeigt vor einem pechschwarzen Hintergrund eine weite dunkle gekräuselte See, welche mittig silbrig erleuchtet ist, ohne dass eine Lichtquelle sichtbar wäre. Dass dieses Werk mit seinen Maßen von über zweieinhalb Meter Höhe und über drei Meter Breite eine Handzeichnung ist, erahnt man erst wenn man an das Werk heran tritt. Die scheinbare augenblickliche Momentaufnahme entpuppt sich als eine Monate währende Detailarbeit.
Dieser Arbeitsaufwand, das Großformat und die Reduktion auf Hell- und Dunkelwerte gibt den von Longo gewählten Motiven seiner hier ausgestellten Zeichnungen ein besonderes Gewicht. Ein vermeintlich ruhiges Nachtseestück wird Reflexionsfläche unserer Fragen und Assoziationen. Diese können vom Wasser als Ursprung des Lebens und wichtigste Ressource der Erde, bis hin zum Mittelmeer als Hürde und Grab vieler geflüchteter Menschen reichen. Auch die anderen gezeigten Zeichnungen Robert Longos verbinden in zwiespältiger Art und Weise ästhetische Schönheit mit einem bedrohlichen Unterton.
Am verblüffendsten tritt dieser Unterton im Raum hinter den schweren Wogen von „Ohne Titel (Black Water)“ hervor. Eine schwebende mannshohe Rotgold schimmernde Sphäre füllt den kleinen dunklen Raum. Was auf den ersten Blick an einen weit entfernten Himmelskörper im Dunkeln des Universums erinnert, entpuppt sich beim Herantreten als ein ganz irdisches und politisches Objekt von Menschenhand gefertigt. Die besondere ‚genoppte‘ Oberflächenstruktur, welche der Metallkugel ihre besonderen Reflexionseigenschaften verleiht, setzt sich aus 40.000 einzelnen Schußwaffenpatronen zusammen.
Robert Longo und das Politische
Das Werk entpuppt sich als unheimliches Objekt, bei dem man ungewohnt nah Waffenmunition gegenübersteht. Das erste Werk in dieser Form schuf Robert Longo 1993 mit 18.000 Patronen. Die Anzahl entspricht jeweils der jährlichen Schusswaffenopfer in den Vereinigten Staaten. Damit visualisiert der Künstler die abstrakte Statistik und schafft einen anmutenden und gefährlichen Todesstern. Dies entspricht auch dem englische Titel: „Death Star 2018″.
In weiteren Werken beschäftigt sich der Künstler mit politischen Themen wie der Klimaveränderung, Flüchtlingspolitik und Waffengewalt. Wie ernst es ihm damit ist, zeigt der Verkauf des Werkes an die Schaufler Foundation im Rahmen der Art Basel 2018: So ging ein Fünftel des Erlöses an eine Organisation für den Sicheren Umgang mit Schusswaffen.
Farbverläufe
Einen weiteren Schwerpunkt zu diesen Schwarz-Weißarbeiten bilden die Werke, welche sich hauptsächlich mit Farbe auseinandersetzen. So ist unter anderem ein noch zweidimensionales, leuchtend farbiges Frühwerk mit fließenden und verwaschenen Pinselstrichen von Katharina Grosse zu sehen. Die geborene Freiburgerin machte zuletzt mit ihrer dreidimensionalen, raumfüllenden Farbgestaltung des Hamburger Bahnhofes in Berlin auf sich aufmerksam. Der Farbauftrag des deutschen Starkünstlers Anselm Kiefer hingegen erinnert an ein stark strukturiertes Relief. Dicke Schichten aus Farbe und Furchen verleihen den Grashalmen in seiner von Walter von der Vogelweide inspirierten Landschaft Dynamik und Bedeutungsschwere.
Um das Zusammenspiel benachbarter Farben geht es sowohl bei dem monumentalen ausgegossenen Farbverlauf von John M Armleder, sowie den präzise lackierten Farbbändern von Udo Rondione und der auf den Museumsraum abgestimmten Bodenarbeit „Winter“ von Adrian Schiess.
Lebendige Farbigkeit und plastische Form verbinden sich in den Arbeiten von Franz West. Marc Quinn entzieht der Bronze „Careless Desire“ in Form einer Orchideenblüte sowohl dem Material als auch dem Motiv seine ursprüngliche Farbe durch einen klinisch weißen Anstrich. Wohingegen Nobuyashi Araki bereits farbigen Blüten tropfende Farbe hinzufügt und damit eine Reibung zwischen künstlicher Farbigkeit und natürlichem Verfall schafft.
Wortspiele
Eine andere Art der Abstraktion verwenden die Werke des für einige Zeit in Stuttgart lehrenden Joseph Kosuth, der Lichtkünstlerin Brigitte Kowanz und von Olav Christopher Jenssen. Sie nutzen Schrift als Gestaltungsmittel ihrer Installationen und Gemälde.
Die Wienerin Kowanz zieht in ihrer subtilen Arbeit „Another Time – Another Place“ Schrift, Licht, Zeit, Raum und die Betrachter:innen selbst in einen unendlichen Spiegelsoog und wirft dieses Bild gleichzeitig zurück auf diese. Der Amerikaner Kosuth hingegen nimmt sich dreier Paragraphen eines Originaltextes von Sigmund Freud zur Traumdeutung an. Er vergrößert das Druckbild auf eine Höhe von 3 Metern. Dem Text fügt er eine neue Ebene durch Neonleuchtbänder hinzu. Entsprechend dem Titel „Word, Sentence, Paragraph“ baut sich das das Werk zunächst aus einem Wort, dann einem Satz und schließlich einem Abschnitt zusammen, der gleichzeitig alles unter- und durchstreicht. Gegen das Leuchten und das Großformat anzulesen, sowie überhaupt dem komplexen Satzaufbau zu folgen, erfordert Arbeit durch die Betrachter:innen und eröffnet dennoch neue Sinn- und Strukturzusammenhänge.
Der Sammler:innenblick
Die aktuelle Ausstellung im Schauwerk Sindelfingen ist ein Querschnitt durch die neueren Teile der Schauflerischen Sammlung, wobei keines der ausgestellten Werk vor der Jahrtausendwende entstanden ist. Dabei sammelte das Ehepaar Schaufler bereits seit 1979 zeitgenössische Kunst zum Beispiel von Künstler:innen aus dem ZERO-Umfeld, aber auch Minimal Art, Konzeptkunst und der Konkreten Kunst. Für die Öffentlichkeit ist diese bedeutende Sammlung seit 2010 im von der Schaufler Foundation getragenen Schauwerk Sindelfingen zugänglich.
Ob social-media-fähiger Hingucker, wie etwa das „Fat Car“ von Erwin Wurm, wallende abstrakte Farbbewegung von Herbert Brandl, oder feine Graphitarbeiten von Marc Brandenburg: Jede:r Freund:in der zeitgenössischen Kunst kann in dieser Ausstellung fündig werden. Dabei lohnt sich bei jedem Werk ein zweiter und dritter Blick um all ihre formalen, sinnlichen und inhaltlichen Untiefen auszuloten.
Anm. der Redaktion: Nach dem Ausstellungszeitraum wurden Bilder der VG Bild-Kunst entfernt.