Augenzwinkernd, frech, bissig, humorvoll, aber auch nachdenklich. Das Kunstmuseum Reutlingen | Spendhaus gibt mit seiner neuen Ausstellung einen Einblick in die Kunst und Gedankenwelt von James Ensor und dies in einer bemerkenswerten Fülle: über 100 Radierungen (darunter auch einige handkolorierte Exemplare), Lithographien, ein Gemälde, nebst einer Kupferplatte und einer Auswahl an Briefen nehmen uns mit auf die bildliche Reise.
Wer war James Ensor?
Der belgische Künstler James Ensor (1860-1949) zählt zu den Wegbereitern der Moderne, seine abwechslungsreichen Arbeiten faszinierten und bewegten bereits zu seinen Lebzeiten. Er sollte schließlich rund 70 Jahre aktiv als Künstler tätig sein und in dieser Zeit etwa 4000 eigenständige Zeichnungen anfertigen.
Zur Welt kam er als Sohn englisch-belgischer Eltern, deshalb der englische Vorname und die belgische Nationalität. Seine Mutter sowie drei weitere Familienangehörige führten Souvenirläden voller Kuriositäten. Ensor ging zunächst fort nach Brüssel an die Kunstakademie, dort hat er sich aber nicht mit den gängigen akademischen Themen beschäftigt: Er ging lieber seine eigenen Wege.
Er kam auch bald zurück nach Ostende und blieb in der Nähe der Familie. Man könnte sagen, er war Teilzeitkünstler. In der Touristenzeit half er in den Familienbetrieben mit und fand dort auch reichlich Inspiration für seine Kunst. Doch damit nicht genug, nebenbei war er auch als Komponist und Autor tätig und drückte sich in den verschiedensten Medien aus. Bei ihm vermischten sich sogar Kunst und Aktivismus.
James Ensor eckte mit seinen Ansichten an, fiel auf und blieb sich in seiner Art dennoch treu. Er hielt den Menschen den Spiegel vors Gesicht. Zunächst bissiger, später mit den Jahren vielleicht etwas sanfter.
„Die Zukunft gehört den Einzelgängern!“
James Ensor
Von Ostende nach Reutlingen – Wie es zur Ausstellung im Spendhaus kam
Alle Ausstellungsstücke stammen aus der umfangreichen Privatsammlung vonYves Deckers aus Ostende, Ensors Heimatstadt an der Nordseeküste. Dort entstand in den letzten zwei Jahrzehnten eine Sammlung mit dem Schwerpunkt auf seinen Radierungen. Eine Auswahl dieser präsentiert das Reutlinger Spendhaus erstmals der Öffentlichkeit.
Ina Dinter, Kuratorin der Ausstellung promovierte 2015 zum Spätwerk von James Ensor. Der Kontakt, über den die Option der Ausstellung zustande kam, stammt aus dieser Zeit. Die Ausstellung und die Präsentation des Künstlers waren ihr „auch Herzensanliegen“, so die Kuratorin, welches sie nun in die Tat umgesetzt hat.
Diese Begeisterung für den Künstler und seine Kunst merkt man der Ausstellung an. Sie ist dabei nicht chronologisch, sondern vielmehr thematisch konzipiert. Bereits vor offiziellem Start der Ausstellung kam viel positives Feedback von zeitgenössischen Künstler:innen ins Haus getrudelt. Groß war die Freude, dass Ensor eine Ausstellung gewidmet werden soll.
Eine kleine Sammlungsgeschichte
Die Kathedrale
Erstes Stück der Ausstellung wie auch der Sammlung ist „Die Kathedrale“ von 1886. Damit fing alles an. Es ist das erste Werk von James Ensor, das Yves Deckers erwarb. Beherrscht wird die Radierung vom Thema der Masken, des Karnevals und der Masse. Vor einer gotischen Kathedrale drängen sich die Maskierten auf dem Platz, doch weder die Kathedrale noch die Menschenmenge passt ganz aufs Bild. Es ist viel zu eng. Wer gehört zu wem, wo geht es lang, wer ist wer? Das so „bunte“ Treiben wirkt nun bedrohlich, unangenehm – die Fratzen werden unheimlich. Keiner zeigt sein Gesicht. Man fühlt sich fremd und fehl am Platz.
Große Ansicht von Mariakerke
Aus einer Reihe von feinen Landschafts- und Stadtansichten sticht besonders die „Große Ansicht von Mariakerke“ (1887) hervor. Die darauf abgebildete Dorfkirche Onze-Lieve-Vrouw-ter-Duinen steht repräsentativ für Ensors Engagement. Leider war geplant, dass sie abgerissen werden sollte. Ensor bewahrte die Kirche vor ihrem Abriss und ließ sich später auf ihrem Friedhof begraben. Er kämpfte für ihren Erhalt mit seiner Kunst und prägt damit bis heute das Erscheinungsbild von Ostende. Besonders nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich Ensor vermehrt für ökologische, kulturelle und ethische Anliegen in Ostende ein. Das er zu diesem Zeitpunkt bereits als berühmter Künstler galt, war nur hilfreich.
Es winkt der Tod – Mein Porträt als Skelett
Ensor taucht oft selbst in Form von verdeckten, versteckten Selbstporträts auf – er ist mehr oder weniger leicht in einigen Werken auszumachen. Oft augenzwinkernd, gern auch etwas makaber in der Gestalt eines Skeletts – so etwa in „Mein Porträt im Jahre 1960″ (1888) oder auch „Mein Porträt als Skelett“ (1889). Seine Werke waren sehr selbstreferenziell, er hat die Möglichkeiten des Mediums ausgelotet und experimentiert. Dies vor allem auch in Phasen. Dabei hat ihn die technische Seite des Mediums Radierung nicht sonderlich interessiert. Er hat mit einer Druckerei in Brüssel zusammengearbeitet, die diesen Teil für ihn übernahm.
Mit einem knöchernen, grinsenden Totenschädel beginnt Ensor auch seinen Zug der Todsünden. Wunderbar vergleichen können wir in der Ausstellung die kolorierte mit der klassischen Variante. Rücken an Rücken hängen sie im Erdgeschoss der Ausstellung. Seit dem Mittelalter haben sich viele Künstler:innen mit dem Thema und Darstellung der Todsünden beschäftigt. Ensor, bekannt für seine kritische Auseinandersetzung mit der Doppelmoral der Gesellschaft, hat sich auch dieses Thema zur Brust genommen.
Seine grotesken, verzerrten Figuren zeigen deutlich ihre zugeordnete Schlechtigkeit. Wie heißt es stets so schön? Anspielungen auf Personen wären rein zufällig. Das erste Blatt entstand 1888, noch ganz unabhängig von dem erst später entwickelten Vorhaben, eine ganze Serie zu schaffen. Zwischen 1902 und 1904 kamen dann die restlichen sechs Radierungen dazu, nebst passendem Frontispiz „Die Todsünden vom Tode beherrscht“ (1904). Ensor war Agnostiker, eventuell auch Atheist. Nichts und niemand war vor ihm und seinen Radierungen sicher.
Mit den Jahren etwas sanfter – Die musikalische Seite James Ensors
Im Obergeschoss der Ausstellung erkunden wir noch einmal genauer Ensors musikalische Seite. James Ensor war ein „semiprofessioneller Musiker“. Zunächst hatte er nur ein Klavier, später sollte noch ein Harmonium dazu kommen. Er schrieb und spielte seine Musik. Wenn er auch nur die schwarzen Tasten spielte und zum Lesen der Noten Unterstützung brauchte. Ensors bekannteste musikalische Komposition ist die Ballett-Pantomime „La Gamme d’Amour“. Diese, inhaltlich eine klassische italienische Komödie um das Liebespaar Miamia und Fifrelin, wurde bereits zu Lebzeiten oft aufgeführt. Für sie schuf Ensor neben der Musik diverse Dekor- und Kostümzeichnungen.
Ensors Kunst kann man in drei Schaffensphasen einordnen. In seiner Frühphase war er noch realistisch, später wurde seine Kunst zunehmend fantastisch. Diese Fantasie, nebst allen Masken, nahm er mit in seine Spätphase und entwickelte sich stilistisch weiter. Eines seiner letzten Gemälde ist „James Ensor, Musiker mit dem Notenschlüssel“ (1939). Selbstreferenziell setzt er sich erneut mit sich und mit den Themen, die ihn beschäftigt haben und ihm wichtig waren, auseinander. Sein Spätwerk ist relativ unbekannt. Anders als seine frühen Werke behielt er diese meist für sich und hielt sie bewusst von Ausstellungen zurück. Lieber schickte er bereits bekannte, frühere Werke noch einmal los.
Ensor und seine Liebesgärten
Die sogenannten „Liebesgärten“ sind die wichtigste Gruppe in seinem Spätwerk und schließen die Ausstellung ab. Ensor hat sich in seiner Kunst immer wieder mit prägnanten Vertretern und Werken der Kunstgeschichte auseinander gesetzt. Manches fand Eingang in seine Kunst, manches ließ er bewusst beiseite.
In seinen Liebesgärten treten, ähnlich wie bei Jean-Antoine Watteau (1684-1721), galante Gestalten neben Dorf- und Edelleuten auf. Ensor erweitert aber das Spektrum und fügt Karnevalsfiguren, später auch Tänzerinnen und Nymphen hinzu.
In der Kunstgeschichte haben Liebesgarten-Darstellungen traditionell die Funktion moralischer Appelle und verbildlichen die Flüchtigkeit der Liebe und menschlichen Glücks. Ensor zeigt hier in seinem „Liebesgarten“ (1888) drei Szenen – drei Stadien einer Liebesgeschichte – in einer Radierung, typisch kritisch und auch humorvoll. Zunächst die Anfänge, alles scheint rosig, alles ist neu, man lernt sich kennen. Danach, beide sind glücklich vereint und in ihrer Zweisamkeit versunken. Das Ganze endet im Streit, die Frau macht dem Mann Vorwürfe. Die Liebesgeschichte verblasst bereits.
Nun bleibt nur noch eins zu sagen. Nehmt euch die Zeit, kommt nach Reutlingen und schlendert selbst einmal durch die Ausstellung. Sucht nach den Fratzen und den Masken, die ihr vielleicht sogar schon von ihm kennt. Lasst euch überraschen, was sich sonst noch alles hier verbirgt. Augenzwinkernd, frech, bissig, humorvoll, aber auch nachdenklich: Welche Emotionen und Gedanken kommen euch bei Ensor und seinen Bilderwelten?
Begleitend zur Ausstellung erschien der Katalog „James Ensor. Das druckgraphische Werk aus der Sammlung Deckers“ (2023) beim Wienand Verlag, Köln. Ans Herz legen möchten wir euch auch das Begleitprogramm – von einer Taschenlampenführung für die ganze Familie, über Vorträge hin zu Führungen der Kuratoren:innen ist für jeden etwas dabei.
Die Ausstellung ist bis zum 25. Juni 2023 im Kunstmuseum Reutlingen | Spendhaus zu sehen.