„Von Posada bis Isotype, von Kollwitz bis Catlett. Dialoge über politische Graphiken. Deutschland – Mexiko.“ im Reina Sofía Museum in Madrid

Das Reina Sofía Museum in Madrid gibt Einblicke in eine bislang wenig beachtete Episode der Kunstgeschichte: Die Rolle der Graphik als Ausdruck sozialer Forderungen in Deutschland und Mexiko in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung zeigt im Zeitraum vom 23. März – 29. August 2022 über 500 Graphiken deutscher und postrevolutionärer mexikanischer Künstler zwischen 1900 und 1968 im politischen Dialog.

Das Reina Sofía Museum in Madrid gibt Einblicke in eine bislang wenig beachtete Episode der Kunstgeschichte: Die Rolle der Graphik als Ausdruck sozialer Forderungen in Deutschland und Mexiko in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung zeigt im Zeitraum vom 23. März – 29. August 2022 über 500 Graphiken deutscher und postrevolutionärer mexikanischer Künstler zwischen 1900 und 1968 im politischen Dialog.

Thema ist die Entwicklung und der Austausch verschiedener, vermeintlich veralteter, antitechnologischer graphischer Medien, sowie deren Funktionen und Verbreitungsformen in sehr unterschiedlichen geopolitischen und sozialen Kontexten. Das Medium Graphik wird in der umfangreichen Ausstellung facettenreich präsentiert. Xylographien, Holzstiche, Linoleumdrucke, Lithographien und Kaltnadelradierungen wurden unter anderem aus den großen Sammlungen des MOMA und des Met in New York, des Institute of Chicago, der US Library of Congress oder des Centre Pompidou in Paris zusammengetragen und erstmalig in dieser Zusammenstellung gezeigt.

„(…) es ist kein einfaches Projekt“

Das Kuratorium bildet der preisgekrönte Kunsthistoriker Benjamin H. D. Buchloh, der auch Professor an der Harvard Universität für Moderne Kunst ist, zusammen mit der international renommierten Kunsthistorikerin und Kuratorin Michelle Harewood. Die Ausstellung ist das Ergebnis langjähriger Recherchen, die in Folge eines Buchloh-Seminars an der Harvard Universität begannen. Das Gebiet ist, in dieser Komplexität bislang noch kaum erforscht. Das Projekt – das gibt Buchloh bei einer Präsentation anlässlich der Ausstellungseröffnung im März 2022 zu – ist sehr vielschichtig und bekam aus diesem Grund von einigen deutschen Museen prompt eine Ablehnung. „Sie haben es nicht verstanden, es ist kein einfaches Projekt“, sagte er. Die Ausstellung ist eine akademische Forschungsausstellung, beruhend auf der Idee, dass ein heute altmodisches Medium wie die Gravur und andere manuelle Grafiken, die Populärkultur zu seiner Zeit, dem Anfang des 20. Jahrhunderts, im Kontrast zu den heutigen moderneren Medien des 21. Jahrhunderts darstellen kann.

Ein weiteres Ziel der Ausstellung ist, so Harewood, ganz besonders Künstlerinnen der Epoche, die nicht in Europa – sondern in Mexiko – wirkten, mit in die Ausstellung und somit die Kunstgeschichtsschreibung aufzunehmen. Es ist ihr ein Anliegen, sie ganz selbstverständlich neben den bereits bekannten Künstler:innen zu präsentieren. So finden wir innerhalb der Ausstellung Werke, die bisher international wenig bekannt waren. Darunter Arbeiten von Elizabeth Catlett, Sarah Jiménez, Fanny Rabel, Andrea Gómez, Mariana Yampolsky und María Luisa Martín. Das Kuratorium betonte auch mehrmals, dass in den Punkten Invention und technischer Bravur einige der graphischen Werke Käthe Kollwitz‘ an die großen Namen wie Rembrandt, Dürer oder auch Goya herankommen.

Grafik im Dienst der sozialen Proteste

Die Ausstellung gliedert sich in vier Hauptbereiche. Der erste Ausstellungsraum widmet sich José Guadalupe Posada (1854–1913) und Käthe Kollwitz (1867–1945); den beiden großen Persönlichkeiten der Graphik am Ende des 19. Jahrhunderts. So finden wir im ersten Raum Hauptwerke wie „Der Weberaufstand (1893-1897)“, „Der Bauernkrieg (1903-1908)“, „Der Krieg (1922-1923)“ und Selbstporträts von Käthe Kollwitz, den Arbeiten des mexikanischen Kupferstechers und Karikaturisten José Guadalupe Posada gegenübergestellt. Die an entgegengesetzten Enden des geopolitischen und künstlerischen Spektrums angesiedelten Künstler:innen in direkter Gegenüberstellung zu sehen, hat seinen ganz besonderen Erfahrungswert. Einerseits Posadas Werke, entwickelt aus dem französischen Stich von Honoré Daumier und Paul Gavarni, seine umstrittenen politischen Cartoons und Vignetten; und andererseits Kollwitz‘ sozialistisches feministisches Werk, das zunächst auf der großen Tradition der europäischen Radierung und Lithographie von Rembrandt bis Goya aufbaut. Posadas Werk, repräsentiert durch zahlreiche Flugblätter, Plakate und Zeitungen, die jahrzehntelang als Referenz einer mexikanischen nationalen Identität dienten, tritt in der Ausstellung in den Dialog mit den großen Mappenwerken, mit denen Kollwitz die sozialen Dramen des Deutschen Kaiserreichs bis zum Weltkrieg reflektierte.

Ein Bruch mit Traditionen der Grafik in Deutschland

Im zweiten Raum der Ausstellung geht es weiter mit dem Wiederaufleben der graphischen Tradition in den ersten zehn Jahren des deutschen Expressionismus. Unter dem Einfluss der Entdeckung des Holzschnitts, beispielsweise durch Paul Gauguin, verbreiteten mehrere Mitglieder der Brücke-Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner oder Karl Schmidt-Rottluff ab 1905 Holzschnitt und Kupferstich wieder als ein spezifisches Medium der deutschen Kunsttradition.

Durch Paul Westheim, einen deutschen Historiker, Kritiker und dem Herausgeber des Buches Der Holzstich (1921), wird der mittelalterliche Kupferstich als Ausdruck der modernen deutschen Nation nach dem Ersten Weltkrieg herausgearbeitet und klar vom französischen Kubismus und dem italienischen Futurismus abgegrenzt. Infolge seines Exils in Mexiko ab 1941 verband Westheim den mexikanischen Kupferstich mit dem deutschen Expressionismus in der zweiten Auflage seines Buches (1954) – darunter Postada selbst und verschiedene Mitglieder des Taller de Gráfica Popular (Werkstatt der Volksgraphiker, kurz auch TGP genannt). Ein Jahrzehnt nach der Gründung der Künstlergruppe Brücke nimmt die deutsche Graphik eine radikale Wendung an. Das Experimentieren mit neuen Wegen der Graphikproduktion zeigen insbesondere Werke wie „Die Hölle“ von Max Beckmann, „Gott mit Uns“ von George Grosz und „Der Krieg“ von Otto Dix. Der Holzschnitt und seine Assoziation mit den rückständigen Ambitionen des neuen deutschen Nationalismus werden aufgegeben. Unweigerlich wird mit den Traditionen gebrochen und eine neue Epoche des Mediums eröffnet.

Das postrevolutionäre Mexiko

Die Hauptrolle des dritten Abschnitts der Ausstellung spielt ein Zusammenschluss internationaler Künstler in Mexiko: Der im Jahre 1937 gegründeten TGP war insbesondere in den 1940er und 50er Jahren sehr relevant. Auch das postrevolutionäre Mexiko sprach über die Verwendung des graphischen Mediums als Kommunikations- und Bildungsinstrument für die Arbeiter:innen- und Landschicht. Die sich daraus entwickelte Debatte, wurde zunächst in Zeitungen wie Frente a Frente und El Machete geführt. Die Künstlervereinigung zweifelte an, dass die vom Staat geförderten Wandmalereien den Bedürfnissen dieser sozialen Schichten gerecht würden. Sie verteidigten ihre Meinung, dass graphische Medien für diesen Zweck deutlich effektiver seien. Der TGP wurde von Raúl Anguiano, Luis Arenal, Leopoldo Méndez und Pablo O’Higgins innerhalb der Avantgarde, Kreisen der revolutionären Schriftsteller und Künstler, gegründet. Er bestand aus zahlreichen Künstlern/Aktivisten, die eine große Anzahl an graphischen Broschüren, Postern und Drucken produzierten. Diese trugen dazu bei, fortschrittliche politische Zusammenschlüsse zu stärken und Anliegen wie die Verstaatlichung von Bergbau- und Ölressourcen oder die Landrechte der indigenen Bevölkerung zu verteidigen. Bei den Flugblättern handelt es sich meist um Lithographien, die von Hand abgezogen wurden. Käthe Kollwitz war international bekannt und wurde so auch in Mexiko als pazifistische aktivistische Künstlerin gefeiert und hatte großen Einfluss auf die Künstler des TGP. Ziel der Mitglieder war es, aktivistische Kunst zu machen und direkt in die demokratische Gesellschaft involviert zu sein. Besonders deswegen gingen die Mitglieder des TGP wie Reporter vor. Sie besuchen abgelegene Orte auf dem Land, um die Zustände dort in ihren Graphiken festzuhalten und zu dokumentieren. Damit einher gehen soziale Forderungen für die einfache Gesellschaft. Ebenso engagierte sich die Werkstatt zunehmend im Kampf gegen den Faschismus. Der Aktivismus wurde insbesondere nach dem Sieg Francos im spanischen Bürgerkrieg, in dem eine bedeutende Zahl von den im Exil lebenden Künstler:innen und Schriftsteller:innen, hauptsächlich spanische und deutsche Antifaschist:innen, eine grundlegende Rolle spielten, besonders bedeutend. Zu seinen Mitgliedern zählte der TGP auch im Exil lebende amerikanische Schriftsteller:innen und Künstler:innen wie z.B. die Fotografin Mariana Yampolsky, den Maler Charles White und die Bildhauerin und Kupferstecherin Elizabeth Catlett. Letztere gehörte zu den Mitgliedern, die die Ikonographie und grafische Technik von Kollwitz` in ihren Drucken und Plakaten anwandten und sowohl die feministische-, als auch die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten antrieben.

Das Isotype-Projekt

Den historischen Abschluss der Ausstellung bildet die vierte Sektion anhand umfassender Dokumentationen des in den 1920-Jahren entstandenen Projekts „Isotype“ von Otto Neurath, Marie Reidemeister-Neurath und Gerd Arntz in seinen verschiedenen Phasen und Orten: Düsseldorf, Wien, Moskau, La Hague und London. Dieses Projekt erlangte schnell internationale Anerkennung. Sowohl in praktischen Anwendungen für eine neue und entstehende Informationsgesellschaft, als auch in Bezug auf eine theoretische Debatte über die eigentlichen Funktionen des Bildlichen. Die entwickelte „Wiener Methode der Bildstatistik“ entfaltete sich innerhalb der politischen Emigration (NL, UK) zu dem Begriff „Isotype“ oder auch „International System of Typographic Picture Education“. Der Wiener Soziologe Otto Neurath entdeckte gemeinsam mit seiner Frau Marie Reidemeister die bildnerische und graphische Produktion von Gerd Arntz und erkannte darin das ideale Mittel, um eine wirklich internationale, funktionale und universell lesbare Zeichensprache zu formulieren. Die Prinzipien des „Isotype“-Projekts wurden in Zusammenarbeit zwischen Arntz und Neurath entwickelt. Dies unter Anderem um wichtige soziologische, wirtschaftliche und politische Informationen an die Arbeiterklasse traditioneller Nationalstaaten sowie aufstrebender postkolonialer Staaten der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkrieges zu vermitteln. Es handelt sich um eine Methode, soziale, technologische, biologische und historische Zusammenhänge bildlich darzustellen. Diese besteht aus einer Reihe standardisierter und abstrahierter Bildsymbole zur Darstellung sozialwissenschaftlicher Daten. Zu sehen sind einige Flugblätter und Graphiken des Projekts aus der Zwischenkriegszeit.

International Foundation for Visual Education; Otto Neurath (Autor), Modern Man in the Making, 1939
© Fotografisches Archiv Museo Reina Sofía

Fazit zur Ausstellung

Gegenstand der Ausstellung ist die künstlerische Beziehung zwischen Deutschland und Mexiko in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in der sehr umfangreichen Schau wunderbar zum Ausdruck kommt. Sie bildet eine einzigartige Gelegenheit sich mit den politischen und historischen Ereignissen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in zwei geografisch weit voneinander entfernten Zentren der Kunst zu befassen. Dabei diente das Medium der Graphik als kulturelle Ausdrucksform progressiver Politik und emanzipatorischer Widerstände. Wer die Möglichkeit hat die Ausstellung noch zu sehen bevor sie am 29. August 2022 schließt, sollte diese unbedingt wahrnehmen. Es handelt sich um eine durchweg anspruchsvolle, durchdachte Ausstellung, die den Blick auf die Graphik in dieser Zeit erweitert, das eurozentrische Bild, das wir von der Kunst haben, ins Wanken bringt, neue Perspektiven gibt und Lücken in der Kunstgeschichtsschreibung schließt.