Über Qualia, eine Camera Obscura und ein pochendes Herz zum Tanz

In der Kulturhalle Tübingen präsentiert der in Tübingen lebende Künstler Joachim Manuel Riederer experimentelle, fotografische Arbeiten. Mit einer selbst konstruierten, mobilen Camera Obscura und anderen unkonventionellen Aufnahmetechniken setzt sich der Künstler mit der philosophy of mind (Philosophie des Geistes) auseinander, die im analogen Verfahren lebensgroß visualisiert wird.

In der Kulturhalle Tübingen präsentiert der in Tübingen lebende Künstler Joachim Manuel Riederer experimentelle, fotografische Arbeiten.  Mit einer selbst konstruierten, mobilen Camera Obscura und anderen unkonventionellen Aufnahmetechniken setzt sich der Künstler mit der philosophy of mind (Philosophie des Geistes) auseinander, die im analogen Verfahren lebensgroß visualisiert wird.

Mary und die sinnliche Qualität der Wahrnehmung

Versuchen wir uns den Arbeiten von Joachim Manuel Riederer zunächst über ein Gedankenexperiment zu nähern.

Mary ist Wissenschaftlerin und ist eine führende Expertin für die Wahrnehmung von Farben im Gehirn. Sie weiß alles über Wellenlängen, die Retina vom Auge und die Verarbeitung von visuellen Reizen im Gehirn. Aber: Mary hat selbst noch nie farbige Gegenstände gesehen. Sie lebt seit ihrer Geburt in einem Raum, in dem es keine Farben gibt. Alles, was Mary über Farben weiß, hat sie in Büchern gelesen. Eines Tages öffnet sich eine Tür nach draußen und zum ersten Mal sieht Mary die Welt in Farbe. Die Frage, die das Gedankenexperiment an uns richtet lautet: Lernt Mary etwas Neues – etwas, das sie nicht über Bücher und Theorien verinnerlichen konnte – wenn sie den schwarz-weißen Raum verlässt?

Dieses Gedankenexperiment des amerikanischen Philosophen Frank Jackson sollte in den 1980er-Jahren den Physikalismus widerlegen, der besagt, wir seien nichts mehr als komplex angeordnete Materie. Das Gedankenexperiment ist im Bereich der Kognitionswissenschaften angesiedelt und stellt im Kern die Frage: Wo stecken unsere Wahrnehmungen und Gefühle?

In der Kulturhalle Tübingen verweist ein Zitat der Tänzerin Soraya Bruno im Ausstellungsraum direkt auf diese komplexen Fragen rund um die sinnliche Qualität der Wahrnehmung: „What is more truth: what we see or what we feel?“ Und schon sind wir mittendrin in der Materie, die Joachim Manuel Riederer in seinen fotografischen Arbeiten auslotet.

Anfänge: auf den Spuren von Richard Avedon

Seit 2003 setzt sich Riederer mit analogen bildgebenden Verfahren auseinander. In den vergangen 20 Jahren ist ein spannendes Oeuvre entstanden, in dem sich der Künstler nach und nach vom klassischen Medium der Fotografie löst und  eigene experimentelle Verfahren in den Fokus nimmt. Riederer absolviert 2008 eine Fotografie-Ausbildung am Lette-Verein Berlin und legt seinen Fokus auf analoge Großformatfotografie. Fasziniert von der fragilen Ästhetik, nutzt Riederer das Medium der Fotografie, um sich der Welt des Tanzes zuzuwenden. Sein erster umfassender Werkkomplex befasst sich mit sorgfältig komponierten Portraits von Tänzer:innen. Nicht während dem Tanz, sondern abseits der Bühne entstehen großformatige, analoge Aufnahmen, die Riederer anschließend im Labor entwickelt. Vorbild und Referenz sind die Portraits des US-amerikanischen Fotografen Richard Avedon, der sich abseits von seinen weltberühmten Modefotografien über unmittelbare Portrait-Aufnahmen dem individuellen Wesen der Portraitierten auf sehr persönliche und puristische Weise näherte.

Aufbauend auf dem erlernten Wissen und der intensiven Auseinandersetzung mit seinen Motiven, beginnt Joachim Manuel Riederer sich ab 2010 vom klassischen Portrait und vom klassischen Medium der analogen Fotografie zu lösen. Stärker als bei den sensiblen Portraits setzt ein befreiter und virtuoser Umgang mit technischen Hilfsmitteln ein. Eine Auseinandersetzung mit den komplexen Prozessen der Wahrnehmung bestimmt die fotografischen Arbeiten. Impulse für die einsetzende Auseinandersetzung mit der Philosophie des Geistes liefern Theorien aus dem Bereich der Kognitionswissenschaften – ein Studium dem sich Riederer an der Universität Tübingen einige Semester widmet.

Von surrealistische Objektanalogien und digitalen Fotogrammen

Eine kleine und raffiniert komponierte Aufnahme aus dem Jahr 2010 bildet in der Ausstellung den Ausgangspunkt für die Entwicklung der fotografischen Arbeiten. Zwei Tänzer:innen sitzen auf einer Ballettstange, ihre Beine sind geschickt verdeckt und erweckt den Anschein, als ob die hölzernen Standbeine ihre eigentlichen Beine ersetzen würden. Dieses Spiel mit den Sinnen erinnert stark an die berühmte Aufnahme „Le Violond’Ingres“, auf der Man Ray 1924 den Rücken von Kiki de Montparnasse in einen Geigenkorpus verwandelt.

Solche surrealistische Objektanalogien behandeln die Funktionsweise unserer Wahrnehmung und werden verstärkt seit den 1920er-Jahren von Fotograf:innen genutzt, die auf der Suche nach neuen, künstlerischen Ausdrucksweisen sind.  Auch bei Riederer läuten sie eine Entwicklung weg vom klassischen Portrait ein.

Ab 2011 beginnt die Auseinandersetzung mit Tänzer:innenfüßen. Das, was ihn am Tanz fasziniert, die Schönheit und die scheinbare Mühelosigkeit, kehrt Riederer hier um. Schält man Tänzer/innenfüße aus dem Ballettschuh, erkennt man: alles hat seinen Preis. Diese Kehrseite möchte Riederer nicht über klassische Fotografien einfangen. Für die unmittelbare und schonungslose Darstellung wählt er digitale Fotogramme. Hierfür modifiziert er eigens einen Flachbildscanner, über den er die Füße hautnah erfasst.

Technische Experimente und ein pochendes Herz zum Tanz

In den folgenden Jahren wird Riederer immer wieder mit technischen Hilfsmitteln, mit Materialien, Kameras und der Chemie experimentieren. Auffällig ist, wie er sein Fachwissen nutzt und virtuos mit verschiedensten Techniken spielt. Die technische Komponente bleibt bei Riederer aber stets nur ein Mittel für die Umsetzung seiner Bildideen. Man könnte sagen, es gilt: material follows art. Die Kunst wiederum folgt einem pochenden Herzen zum Tanz und führt Riederer vom Bild hin zum bewegten Bild.

In Kooperation mit Armando Braswell, Philipp Kannicht und Dr. Permi Jhooti entsteht 2012 die interaktive Video- und Soundinstallation „Heart“. Die ursprüngliche Arbeit, wurde für die Ausstellung in der Kulturhalle Tübingen modifiziert und erweitert.

Acht verschiedene Videosequenzen zeigen abwechselnd Armando Braswell und den mittlerweile verstorbenen Tänzer Josef Bunn beim Tanz und in Bewegung. Der unterlegte Herzschlag treibt voran und legt gleichzeitig frei. Wie bei der Serie den Tänzer:innenfüße erfahren Betrachter:innen etwas, das über die Ästhetik des Tanzes hinausgeht. Aktiviert wird die Installation über das Handauflegen auf die zur Installation gehörende Blackbox – ein Keramikobjekt der Künstlerin Rosa Zahn. Diese Geste bringt die Interagierenden in eine Input-Output-Beziehung mit der Kunst. Auf einen Reiz folgt eine Reaktion. Grob entspricht das auch den Funktionsweisen des Tanzes an sich.

Über eine Camera Obscura

Im Jahr 2019 erhielt Riederer eine Förderung der Karin Abt-Straubinger Stiftung und konnte damit ein lange verfolgtes Projekt umsetzen: den Bau einer mobilen Camera Obscura. Für das experimentelle Projekt entstand eine Zeltkonstruktion, die den Fotografen nicht hinter sondern in der Kamera platziert. Das Motiv kann nur über millimetergenaue Präzisionsarbeit erfasst werden und wird in der Kamera auf Direkt-Positiv Papier belichtet oder 1:1 auf Filmmaterial übertragen.

Bereits bei Aristoteles wurde die Camera Obscura, eine dunkle Kammer mit einem Loch in der Wand, zur Metapher für die menschliche Wahrnehmung. Sie entspricht der Funktionsweise des Auges und ist Ausgangspunkt für die Erfindung der Fotografie als bildgebendes Verfahren. Mit der Camera Obscura schuf sich der Künstler ein neues Medium für die künstlerische Auseinandersetzung mit Wahrnehmungsprozessen.

Ergebnis dieses ambitionierten Projekts sind Arbeiten, die eine neue Dimension der Bildästhetik ermöglichen. Einzigartige Materialien – vom Künstler aus Restbeständen erstanden – bringen durch eine herausragende Kenntnis der Materialbeschaffenheit Effekte hervor, die den Bildern einen originären Charakter verleihen. Unterlegt sind die Camera Obscura-Aufnahmen durch verschiedenste philosophische Konzepte. Von der Mystik des Mittelalters bis hin zur aktuellen KI-Forschung verbindet die Camera Obscura bei Riederer die Rätsel und wissenschaftlichen Erkenntnisse von Wahrnehmungsprozessen.

Kommen wir abschließend auf Mary und das Gedankenexperiment von Frank Jackson zurück. Das Gedankenexperiment bringt die sinnliche Qualität von Farbe in einen ausschließlich schwarz-weißen Werkkomplex. Die Arbeiten von Joachim Manuel Riederer rufen folglich auch dazu auf, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen. Nicht nur die Funktionsweise, sondern die Reaktion auf die sinnliche Qualität des Reizes. Das könnte ein Kriterium sein, das den Menschen und zukünftige Technologie voneinander unterscheidet.

Diese komplexen Fragen des Menschseins machen die Arbeiten von Joachim Manuel Riederer zu nachhaltig wirkenden Projektionsflächen. Verbunden mit dem virtuosen Materialumgang und dem schlichten Faktor Zeit bieten die fotografischen Arbeiten Reibungsflächen für die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und platzieren sie unmittelbar in relevante Diskurse unserer Zeit.

Bis zum 16. Juli ist die Ausstellung „Joachim Manuel Riederer: Fotografische Arbeiten. Über Qualia, eine Camera Obscura und ein pochendes Herz zum Tanz “ in der Kulturhalle Tübingen zu sehen.