Vivian Suter füllt den Palacio de Velázquez mit Farbe. Die vom Museo Reina Sofía kuratierte Ausstellung vereint intuitive Empfindungen mit den schönsten Farbkombinationen und Elementen aus der Natur, die den gesamten Raum des Palastes einnehmen: An den Wänden, über den Boden verteilt und mitten im Raum hängen zahllose Leinwände, die ihre Besucher:innen dazu einladen, zwischen sie hindurchzugehen. Die Gruppierung der Leinwände erzeugt den Charakter eines Dschungels, die Ausstellung wird dadurch zu einer physischen Erfahrung und verleiht skulpturale Größe.
Vivian Suter – Leuchtende Farben aus den Tiefen des Regenwaldes
Vivian Suters Gemälde vereinen verschiedene Einflüsse; dazu gehören der lateinamerikanische magische Realismus, die Kunst ihrer Mutter Elisabeth Wild (1922–2020) und vor allem die Natur als ihre größte Inspirationsquelle. Die Farbigkeit der Leinwände lassen vermuten, dass sie auch den Expressionismus als eine inspirierende künstlerische Bewegung wahrgenommen hat. Sie nennt in einigen Interviews Namen aus der Kunstszene in Basel, die sie beeinflusst haben, wie zum Beispiel Martin Disler, Miriam Cahn und Markus Raetz, mit dem sie auch befreundet war. Während ihre Mutter Elisabeth Wild in ihrer Kunst sehr kontrolliert war, ist Suter ausgesprochen offen und enthemmt in ihrer Arbeitsweise. Ihre Werke, die aktuell (25. Juni 2021 – 2. Mai 2022) in der Ausstellung „Vivian Suter“ im Palacio de Velázquez, inmitten des Stadtparks El Retiro in Madrid ausgestellt werden, strahlen eine ganz besondere Freiheit aus. Organisiert wurde die Ausstellung von dem Museo Reina Sofía, kuratiert wurde sie von dem Museumsdirektor Manuel Borja-Villel.
Die Gemälde hängen ohne Keilrahmen an Orten, die eine unmittelbare Beziehung zum architektonischen Raum der Ausstellung suchen, gleichzeitig aber auch unweigerlich auf die Umgebung verweisen, in der sie entstanden sind. Überall im Raum verteilt, hängen die farbenprächtigen Leinwände an Holzgerüsten, wurden wie überdimensionale Collagen an den Wänden befestigt und erstrecken sich hin und wieder auch über den Boden. Dabei behält jede Leinwand stets ihre eigene Autonomie als Kunstwerk inne. Manche von ihnen wirken wie riesige textile Skulpturen. Durch den Ausstellungsraum zu schlendern, ist in vielerlei Hinsicht eine faszinierende Erfahrung. Man hat das Gefühl, durch Zeit und Raum zu reisen und direkt in die Tiefen des Regenwaldes einzudringen. Die leuchtenden Farben rufen Erinnerungen hervor, denn jeder hat seine ganz eigenen und individuellen Assoziationen mit bestimmten Farben und womöglich gibt es keine Farbkombination, die in dieser Ausstellung nicht vertreten ist.
Eine radikale Entscheidung
Die argentinisch-schweizerische Malerin Vivian Suter ist 1949 in Buenos Aires geboren. Ihre Mutter Elisabeth Wild stammt aus einer jüdischen Familie in der Schweiz und floh mit Suters Vater 1939 nach Lateinamerika. Ihre Mutter war Malerin und ihr Vater hatte eine Textilfabrik in Argentinien, für die ihre Mutter teilweise auch die Muster entwarf. Ein Leben ohne Kunst war für Suter immer schon unvorstellbar – sie war von klein auf von bedruckten Stoffen und Kunst umgeben. Im Jahr 1962, im Alter von 13 Jahren, zog sie mit ihrer Familie in die Schweiz und besuchte dort 1972 die Kunstgewerbeschule Basel. Anschließend lebte sie in Wien, Bern und Rom und bereiste Asien, Afrika und Australien. Aus der Schweizer Kunstszene in Basel trat sie trotz großem Erfolg 1982 aus und zog sich zurück nach Mittelamerika, was ihr von einigen Kunsthändler:innen und Bekannten übelgenommen wurde. Die Kunstszene verstand nicht warum sie Europa verlassen hatte und feuerte sie schnell ab. Sie lebt seitdem mit ihrer Familie und ihren Hunden auf einer ehemaligen Kaffeeplantage in Panajachel inmitten des guatemaltekischen Regenwalds am Atitlán-See. Dort entwickelte sie einen engen Austausch mit ihrer natürlichen Umgebung. Diese spiegelt sich in rahmenlosen farbigen Leinwänden wieder, die tief in die tropische Landschaft eintauchen, die ihren Arbeitsplatz umgibt.
In einem Interview, das im Juli 2021 im Art Bulletin publiziert wurde, erzählt Suter, dass sie damals in Basel den sozialen Aspekt ihres Berufes nicht genießen konnte. Als sie die Kunstszene in der Schweiz verließ und sich in Guatemala in den Tiefen des Regenwaldes einrichtete, hatte sie zunächst für viele Jahre kaum Ausstellungen. Obwohl der Erfolg, den sie zuvor genossen hatte, ausblieb, arbeitete sie unbeirrt weiter. Sie spürte, dass ihre Zeit noch kommen würde. Ihre Mutter lebte bis zu ihrem Tod im Jahre 2020 bei Suter in Guatemala; immerzu diskutierten sie über verschiedene Aspekte ihrer Werke und hatten teilweise sogar gemeinsame Ausstellungen. Vielleicht gerade wegen ihrer Unterschiede war dieser Austausch besonders bereichernd.
Ihre Karriereausstellungen hatte Suter schließlich unter anderem in der Kunsthalle Basel (2014), auf der São Paulo Biennale (2014), auf der documenta 14 in Kassel und Athen (2017), auf der Taipei Biennale (2018) sowie in jüngerer Zeit im Art Institute of Chicago (2019) und im Camden Art Centre in London (2020). Es dauerte seine Zeit, bis die Kunstwelt Suter wiederentdeckte; im vergangenen Jahr wurde sie mit dem Prix Meret Oppenheim, dem wichtigsten Schweizer Kunstpreis, ausgezeichnet. Ihre radikale Entscheidung sich in die Wildnis zurückzuziehen und von dem Rest der Welt für einige Zeit weitestgehend zu isolieren, erscheint nun – mehr als zwanzig Jahre später – als eine weise und treffende Entscheidung, die ihr Kunstschaffen prägte.
„Meine Stücke sind wie die Natur, sie leben weiter“
In Guatemala malt Suter auf die Leinwände, die ihr dort zur Verfügung stehen, genießt die Abschottung, konzentriert sich auf ihr Innenleben und lehnt Inspiration von außen größtenteils ab. Ihre Arbeitsweise im Freien scheint Teil ihres Charakters zu sein; sie malt oft an mehreren Leinwänden gleichzeitig. Meistens hängt sie ihre Bilder zum Malen auf; entweder an einen Baum oder einer Leine im Freien, teilweise aber auch im Studio an die Wand. Wichtig ist es ihr, stets mobil zu sein und die Freiheit zu haben, sich bewegen zu können, sagt sie.
Die Natur ist ihr Studio und gleichzeitig ihre größte Inspirationsquelle: Prägende und richtungsweisende Momente in ihrer künstlerischen Arbeit bedeuteten die Tropenstürme Stan im Jahr 2005 und Agatha im Jahr 2010, die enorme Schäden in Panajachel anrichteten und auch einen Großteil ihrer Werke bei der Überflutung ihres Ateliers betrafen. Als sie ihre Leinwände herumtreiben sah, glaubte sie zunächst ihr Lebenswerk sei unwiderruflich verloren. Diese Naturkatastrophe bewirkte jedoch vielmehr ein Umdenken ihrer künstlerischen Praxis: Während sie ihre Werke trocknete, beschloss sie, von nun an das Eingreifen der Natur zu akzeptieren und in ihre Werke einfließen zu lassen. Viele ihrer Bilder wurden gänzlich schlammdurchtränkt, wodurch der Zufall der Natur die Bilderserie vervollständigte. Die Leinwände tragen fortan die Einwirkungen der Umwelt und sind mit Laub, Pflanzen und Blättern bedeckt; auf einigen erkennt man auch die Abdrücke von Hundepfoten. In gewisser Weise kann man dieses Vorgehen auch als eine neue Art der Zufallstechnik in der Kunst ansehen. Außerdem lässt sich das Phänomen der Natureinwirkung für gewöhnlich eher mit Skulpturen, die der Witterung ausgesetzt sind und damit eine ganz besondere Patina bekommen, in Verbindung bringen.
Suter akzeptiert das Wetter als einen Teil des Lebens und übergibt der Natur die Co-Autorrolle, lässt sie ihren Teil zu dem Werk beitragen, anstatt dagegen anzukämpfen. Sie erklärt die Natur zur Kunst und gibt ihr eine Bühne: Wenn es anfängt zu regnen geht sie zurück ins Atelier und sieht sich das Ergebnis dann einfach am folgenden Tag an. Sie sagt: „Meine Stücke sind wie die Natur, sie leben weiter“.
Übersäht von Blättern und Erde, vollgesogen von Gerüchen
Eindrücklich in Erinnerung bleiben, neben dem atemberaubenden Farbenspektakel, vor allem auch die Ausmaße der Leinwände. Sie nehmen viel Raum ein, sind teilweise mehrere Meter lang und machen die Ausstellung zu einer physischen Erfahrung. Wir müssen große Schritte gehen und uns hin und her bewegen, um die Werke zu begutachten.
Rein kommerziell gesehen wäre es profitabler kleinere Bilder zu malen, doch darauf kam es Suter nie an. Sie wusste, der Tag würde kommen, an dem die Museen ihre Werke so ankaufen würden, wie sie sind; übersäht von Blättern und Erde, vollgesogen von Gerüchen. Sie sagt, als eine im Regenwald lebende Künstlerin genießt sie es sehr, ihre Werke im Museum in einem neuen Kontext zu sehen. Aus konservatorischer Perspektive stellt dies jedoch eine Herausforderung für Kurator:innen dar. Die Künstlerin ist von der Professionalität der Restaurator:innen berührt, die äußerst sorgfältig mit ihren Gemälden umgehen und sich darüber austauschen, wie sie optimal geschützt und aufbewahrt werden können.
Rund 500 Leinwände von Vivian Suter im Palacio de Velázques
Die Ausstellung „Vivian Suter” umfasst rund 500 Gemälde, darunter die Nisyros-Serie, die 2017 auf der documenta 14 in Athen präsentiert wurde und ein Symbol für die Atmosphäre und die Naturkräfte der kleinen griechischen Insel ist. Sie malte dafür vor Ort in der Nähe des Vulkans auf der Insel Nisyros und die Werke wurden schließlich auch im Freien in Athen präsentiert. Besondere Ausdruckskraft bekommt die Ausstellung durch die unkonventionelle Hängung: Die vielen verschiedenen Leinwände sind so angebracht, dass sie in der Gesamtwirkung beeindrucken, aber auch jedes einzelne Werk für sich selbst steht. Einige, und das ist eine echte Seltenheit, kann man von der Vorder- und Rückseite betrachten, wobei man stets unentschlossen bleibt, welche der Seiten, die bemalte oder jene, bei der die Farbe nur durchscheint, denn nun die eindrucksvollere ist.
Man kann regelrecht durch die Leinwände hindurchlaufen und sich beinahe darin verlieren wie in einem Labyrinth – wie in einem Wald aus Leinwänden. Sie hängen da als würden sie trocknen und darauf warten, dass die Natur ihren kreativen Prozess fortsetzt. Auch frühe Werke aus ihrer Schweizer Periode werden im Palacio de Velázquez im linken Gebäudeteil gezeigt. Die großformatigen konzeptuellen Gemälde in verschiedensten Formen beeindrucken besonders durch ihre Ausdruckskraft. Organischer und prozessualer sind ihre aktuelleren, schlammdurchnässten und mit Blättern überladenen Bilderserien, die durch die Zufälligkeit der Natur vervollständigt wurden und im rechten Gebäudeteil zu finden sind.
Viele Künstler:innen beschäftigen sich heute mit dem Klimawandel, kritisieren den Kunstmarkt oder wollen beides in einem neuen, in einem von nachhaltigen Bedingungen geprägten Kontext verbinden. Für die jüngere Generation ist Suter sowohl mit ihrer Kunst, als auch mit ihrem Lebensstil zu einem inspirierenden Vorbild geworden, denn sie hat einen Weg gefunden respektvoll und ohne Zugeständnisse mit ihrer Umwelt umzugehen.
Die Ausstellung „Vivian Suter” ist noch bis zum 02.05.2022 im Palacio de Velázques im Retiro Park, Madrid zu sehen. Der Eintritt ist kostenlos.