Räume können viel erzählen. Um ihre Geschichten zur Sprache kommen zu lassen, muss man sich zunächst auf eine Spurensuche einlassen, sich durch Schichten arbeiten und viele kleine Hinweise zu einem größeren Bild zusammenfügen. Im Ravensburger Museum Humpis-Quartier ist in diesem Zusammenhang ein Meisterstück gelungen, indem ein gesamtes Stadtviertel und seine Geschichte vom 11. bis ins 21. Jahrhundert konserviert und sichtbar gemacht wurde. Die Bohlenstube mit ihrem Blauen Erker ist ein Kernstück des Quartiers. Im Zuge einer einjährigen Projektphase im Rahmen des Coachingprogramms „Museen im Wandel“ der MFG Baden Württemberg entwickelte das Museumsteam nun eine Augmented Reality-Station, durch die das Humpis-Quartier in den digitalen Raum erweitert wird. Laura Pölloth, stellvertretende Leiterin des Museums und ihr Kollege Peter Fritsch waren federführend an der Konzeption und Umsetzung beteiligt und haben uns Einblicke in die Funktionsweise und den Entstehungsprozess der digitalen Anwendung gegeben.
Der Blaue Erker – von der repräsentativen Stube zur Pension
Betritt man die Bohlenstube in ihrem heutigen Zustand kann man sich einen guten Eindruck von der repräsentativen Wirkung des Raumes im 15. Jahrhundert machen.
Als um das Jahr 2000 die Planungen für das außergewöhnliche Denkmalschutz- und Museumsprojekt im Humpis-Quartier Fahrt aufnahmen, wurde nicht nur ein einzelner historischer Zustand rekonstruiert. In den Jahren von 2008 bis 2011 wurden auf Anordnung des Landesamts für Denkmalpflege bauhistorische Untersuchungen durchgeführt. Verantwortliche Expert:innen waren der Restaurator Herbert Eninger, sowie der Bauforscher und die Restaurator:innen Dr. Stefan Uhl, Cornelia Marinowitz, Heidi Haller und Frank Eger. Im Verlauf der Untersuchungen wurden die Bauschichten der Räume vorsichtig gelüftet und man stieß unter anderem auf die originale Bretterbalkendecke der spätmittelalterlichen Bohlenstube, die unter einer später eingezogenen Decke versteckt lag. Die ursprünglich als ein Raum genutzte Stube wurde später in kleinere Räume aufgeteilt. Als die Gastwirtfamilie König-Hindelang die Räume 1928 erwarb, wurde eine zusätzliche Wand rechts des Erkers eingezogen. Hier wurde zunächst ein Friseursalon und später eine Pension betrieben.
Ebenfalls untersucht wurden die Wände im Bereich des Erkers. Die Untersuchungen ergaben eine Abfolge von nachweisbaren Farbschichten, die im Laufe der Zeit entsprechend dem Geschmack der Bewohner:innen und der Nutzungsart verändert wurden. Die namensgebende blaue Farbe erhielt der Erker erst um die 1980er-Jahre, als in den Räumen eine Pension betrieben wurde.
„Der Wunsch die Ergebnisse der bauhistorischen Untersuchung im Bereich des Erkers sichtbar zu machen, bestand schon seit längerer Zeit.“, berichten Laura Pölloth und Peter Fritsch. Die notwendigen Werkzeuge für die Umsetzung der Idee lieferten schließlich die Möglichkeiten der Augmented Reality-Technologie.
Digitales Zeitfenster- von der Idee zur Anwendung
Als die MFG Baden-Württemberg zum zweiten Mal das Förderprogramm „Museen im Wandel“ ausschrieb, bewarb sich das Ravensburger Museumsteam um die Teilnahme – mit Erfolg. Ein Jahr lang begleitete die MFG das Museum Humpis-Quartier und drei weitere Projekte anderer Museen mit passgenauem Coaching, Workshops und Online-Seminaren, die auf die individuellen Bedürfnisse der Häuser eingingen. Nach einer einjährigen Projektphase war der Prototyp im Mai 2021 realisiert. Unterstützung erhielt das Team durch Florian Dobler und Patrick Schuler von der Ravensburger Medienagentur Rauch + Spiegel. Auf der Basis von hunderten Fotografien entstand eine digitale 3D-Rekonstruktion des Erkers. Laura Pölloth und Peter Fritsch führen uns die seit Februar 2022 aktiv nutzbare Medienstation vor. „Die Station fordert die Besucher:innen auf, selbst aktiv zu werden. Spielerisch kann mit der Medienstation der Erker erkundet werden.“ berichtet Peter Fritsch während er die Tabletkamera auf aktivierbare Bereiche des Erkers richtet.
Mithilfe der innovativen Technologie der Augmented Reality (AR) und der darauf basierenden Medienanwendung werden die verdeckten Farb- und Zeitschichten des spätmittelalterlichen Kapellenerkers sichtbar gemacht, die unter dem markanten blauen Anstrich schlummern. Vom repräsentativen Grün zur Zeit der Händlerfamilie Humpis im 15. Jahrhundert, über das vornehme Grauschwarz im 16. Jahrhundert und das lichtbeständige und gesundheitsschädigende Bleiweiß des 17. und 18. Jahrhunderts. Von den Entwicklungsstufen erzählen illustrierte Bewohner:innen in zeittypischer Bekleidung, deren Texte von Ravensburger Schauspieler:innen eingesprochen wurden. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der bauhistorischen Untersuchungen können so auch den jüngeren Besucher:innen des Museums verständlich vermittelt werden.
Durch die Anwendung führt als besondere Zugabe ein kleiner Engel. Das Säulenkapitell, das den Erker rechts flankiert, beinhaltet seit dem 15. Jahrhundert zwei Engelsdarstellungen. Für die Medienanwendung wurde der linke und nicht farbig gefasste Engel animiert und begleitet das Tutorial.
„Die Medienanwendung ist für uns eine erste Etappe. Jetzt geht es darum Feedback zu sammeln und die Anwendung fortlaufend zu optimieren.“ erklärt Laura Pölloth. Im Museum Humpis-Quartier werden in der nächsten Zeit hierfür eigens Einführungstermine für interessierte Einzelbesucher:innen und Familien angeboten. Das Förderprojekt der MFG Baden-Württemberg werten Laura Pölloth und Peter Fritsch als gelungene Unterstützung bei einem Prozess, der in vielen Museen gerade erst losgetreten wird. „Durch die Förderung wurde uns erst bewusst, wie viel grundlegende Ausstattung uns noch fehlt, um in die Konzeption von digitalen Formaten einzusteigen.“ ergänzt Pölloth. Auch die Vernetzung mit anderen Museumsteams und die Zusammenarbeit mit der Medienagentur Rauch + Spiegel konnten grundlegendes Wissen für die Entwicklung digitaler Anwendungen vermitteln. „Jetzt ist uns erstmal wichtig, dass die Augmented Reality-Station von den Besucher:innen angenommen wird und die Funktionen weiter optimiert werden können.“ schließt Peter Fritsch. Für beide steht fest, dass mit dem Projekt ein erster Schritt in die digitale Vermittlung getan wurde, in den nächsten Jahren aber weitere Projekte folgen sollen.
Um den Museumsbesuch für neue und jüngere Zielgruppen attraktiv zu gestalten, werden digitale Angebote in der unmittelbaren Zukunft rapide an Bedeutung gewinnen. Es wird darum gehen, Zielgruppen zu erkennen, Projekte zu wählen, die Vorhandenes unterstreichen und erweitern und dabei einen spielerischen Zugang zu historischen Themen und wissenschaftlichen Ergebnissen zu ermöglichen. Wie man gelungen und institutionsgerecht erste digitale Wege im Museum gehen kann, zeigt die Augmented Reality-Station im Museums Humpis-Quartier in Ravenburg. Schaut vorbei und macht euch selbst ein Bild!