Das Kunstmuseum Reutlingen | konkret präsentiert in seiner aktuellen Ausstellung „Vom Verrinnen. Zeitkonzepte der Gegenwartskunst“ ausgewählte Werke von 13 internationalen Künstler:innen. Durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft folgen wir dem Fluss und Stillstand der Zeit durch individuell erfahrene und erfahrbare Momente, Stunden und Augenblicke. Sehr schnell wird klar, dass die Wahrnehmung der Zeit etwas sehr Subjektives ist. Jeder nimmt sie anders wahr, auch wenn Zeit objektiv messbar ist. Alles – auch die Zeit – ist relativ.
Das Verrinnen der Zeit – über die Jahre
„Afraid of Death“ (seit 2007) von Manuela Kasemir (* 1981) thematisiert das Verrinnen von Zeit in Selbstporträts und zeigt die Veränderungen an ihrem Körper. Im Kunstmuseum Reutlingen sind es drei Aufnahmen, die gezeigt werden. Die erste von 2007, die zweite Fotografie entstand sechs Jahre danach und die dritte ist von 2021. Der ursprüngliche Aufbau der Szene wurde, über die Jahre hinweg, unverändert beibehalten. Abgeschlossen ist das Projekt noch nicht, geplant ist eine lebenslange Fortführung. Für Ausstellungen produziert Kasemir das jeweils aktuelle Bild in Farbe, die älteren in Schwarz-Weiß.
i am afraid of death – die Angst bleibt?
Mit dem Rücken zum Betrachter steht Manuela Kasemir nackt vor einem Wandspiegel, zwischen sich und dem Spiegel hält sie einen zu Worten verdrehten Faden „i am afraid of death“ in die Höhe. Dieser Faden (gar der eigene Lebensfaden?) ist, im Gegensatz zu ihr, im Spiegel sichtbar. Der Blick in den Spiegel kann vielleicht mit am stärksten das Vergehen der Zeit an einem selbst aufzeigen. Jede Falte, jedes neue graue Haar wird sofort wahrgenommen. Es stellt sich die Frage, wie die kommenden Aufnahmen von Manuela Kasemir in der Fotoreihe sich womöglich noch verändern werden.
Vergangene Momente neu erschaffen
Einen anderen Aspekt greift Kasemir in „Urd“ (2008) heraus. Urd, altgermanisch für Schicksal oder Vergangenheit, besteht aus sieben, kleinformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien und zeigt die Künstlerin bei recht alltäglichen Aufgaben in einem etwas in die Jahre gekommenen Haus. Die ganze Umgebung scheint wie verstaubt und gehört der Vergangenheit an so wie die Menschen, die hier einst gewohnt haben. Wenn man genau hin schaut, findet man schnell irritierende Details in den Aufnahmen. Die Künstlerin hat jede Aufnahme digital bearbeitet: Wasserdampf steigt aus einem Kessel auf, der auf einem kaputten Herd steht, die Tapete bekommt Gesichter und die Frau wird gar zum Mann. Alles wird infrage gestellt. Kasemir hat die Aufnahmen in ihrem Elternhaus aufgenommen, in der Serie spielt sie Momente aus ihrer Erinnerung nach und hinterfragt diese. Jede Erinnerung verblasst über die Jahre, verändert sich mit der Zeit.
Am Fluss der Zeit
Wie die Zeit vergeht, während man durch die Ausstellung geht, wird einem buchstäblich vor Augen geführt. „A View from the Other Side“ (2011) vom finnischen Künstlerduo IC-98 (Patrik Söderlund (* 1974) & Visa Suonpää (* 1968)), nimmt uns mit und schenkt uns den Ausblick auf ein Gebäude am Fluss, welches wir über den Verlauf der Jahre hinweg betrachten dürfen.
Nichts bleibt wie es ist
Diese zeiträumlich erlebbare Schwarz-Weiß-Projektion mit einer Dauer von 70 Minuten, basiert auf naturalistischen, nachträglich animierten Zeichnungen. Wir sehen den Fluss der Zeit, nehmen teil an den vorbeiziehenden Booten, Wolken und Jahreszeiten und all den Veränderungen am Gebäude selbst. Nichts steht still, alles ist im Wandel. Nach und nach verschwinden die Anzeichen menschlichen Lebens und die Natur erobert sich ihr einstiges Territorium zurück.
Just in Time – vom Festhalten der Momente
Ähnlich begleitend ist die Videoarbeit „Just in Time (France)“ (2014). In dieser filmte Timo Klos (* 1983) durch den Sucher einer analogen Spiegelreflex-Kamera seine Urlaubsbilder. Der Selbstauslöser kündigt sich im Video kontinuierlich mit einem Piepton an. Egal wo wir uns in der Ausstellung befinden, hören wir ihn. Die Figuren positionieren sich, halten inne, das Sucherbild wird schwarz. Wir erwarten das fertige Urlaubsbild zu sehen, doch sind irritiert, denn die Personen wurden nicht wie erwartet dauerhaft ins Bild gesetzt. Ein Moment soll über die Zeit hinweg festgehalten werden, aber im Anfertigen ist dieser Moment schon vorbei und wir können die Zeit nicht zurück drehen.
Eine kleine Zeitreise oder die Zeit bleibt hier stehen
Gegenüber in der Rauminstallation „Kommʼ Heinz, wir gehen“ (2015–18) scheint die Zeit dagegen stillzustehen. Auf einer altmodischen Mustertapete wurden Fotografien verschiedenster Herkunft in gebrauchten Bilderrahmen aufgehängt. Die Aufnahmen selbst sind unscharf, falsch belichtet, vom Blitzlicht überstrahlt, Menschen haben darauf ihre Augen geschlossen und wurden in einer Bewegung abgelichtet. Sie verschwimmen, entziehen sich uns. Timo Klos hat diese Fotos zusammengesucht und zum Teil nachträglich modifiziert. Auch an dieser Arbeit wird klar, dass wir Fotos anfertigen, um gewisse Momente und ihre Gegenwart festzuhalten. Wenn wir diese Aufnahmen später herausholen, springen wir zurück in diese Vergangenheit.
Aufgrund von Bildrechten, mussten nach der Ausstellungslaufzeit Bilder entfernt werden.
Verlust der Zeit
Im Gedächtnis können wir aber auch in anderer Hinsicht Bilder speichern. Davon erzählt Klos in „To Mark Time“ (2008). Seine Fotoserie dokumentiert Attrappen von Bushaltestellen, die vor Altersheimen stehen. Diese dienen der Sicherheit von orientierungslosen Bewohner:innen. Vorwiegend an Demenz erkrankte Menschen brechen gerne zu spontanen Reisen auf und suchen, früheren Erinnerungen folgend, ein Transportmittel und warten schließlich an der nahen Bushaltestelle auf den Bus. Nach einiger Zeit vergessen sie diesen Impuls wieder und kehren auf ihre Zimmer zurück. Diese Attrappen sind sinnvoll, sichern und beruhigen die Bewohner:innen. Bushaltestellen generell kann man als Betrachter sonst auch nur als gesellige Treffpunkte wahrnehmen, wenn man nicht über diesen Aspekt Bescheid weiß. Doch, sobald man sich dessen bewusst wird, wirken diese beruhigenden Anlagen nicht mehr ganz so beunruhigend. Diese Bilder können nun auch die Angst vor einem eigenen Verlust des Zeitgefühls hervorrufen.
„nice as fuck“ oder einfach alles hinter sich lassen
Ganz anders an das Thema des Älterwerdens geht Gosbert Gottmann (* 1955) mit „Good Old Germany“ (Detail) (seit 2007) heran. Ihm war aufgefallen, dass Unterschriften im Alter nicht nur unlesbarer, sondern einander auch ähnlicher werden. Je nach Mensch wirken die Buchstaben mit den Jahren zunehmend bemüht oder verkünstelt, andere dagegen gar kindlich-suchend. Für seine Serie hat Gottmann aus solchen Signaturen einzelne Buchstaben digital herausgelöst und damit ein Buchstabenset von A bis Z zusammengetragen, aus welchem er dann verschiedene und neue Worte bildete. Bei ihm treffen jugendlich wirkende Worte auf Lettern des Alters, der Mühen und des Kontrollverlustes. Sie wirken vertraut und fremd zugleich, stimmig und doch irritierend.
Aufgrund von Bildrechten, mussten nach der Ausstellungslaufzeit Bilder entfernt werden.
Wann, wenn nicht jetzt – wann besuchst du die Ausstellung?
Jeder der gezeigten Künstler:innen schärft unser Bewusstsein für das Verrinnen der Zeit und macht diese greifbar und erlebbar für uns. Wir erhalten Einblicke in die Entstehung dieser Kunstwerke, erfahren vergangene, einzigartige Momente und setzten uns mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinander.
Die Ausstellung „Vom Verrinnen. Zeitkonzepte der Gegenwartskunst“ ist noch bis zum 28. August 2022 im Kunstmuseum Reutlingen | konkret zu sehen. Ein begleitender, zweisprachiger Ausstellungskatalog ist erschienen.