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„Grenzen der Aufklärung“ – Ausstellung der Galerie Oberwelt e.V.

Ausstellungsansicht Grenzen der Aufklärung in der Oberwelt e.V.

„Ob Sonnenschein, ob Sternenfunkel:

Im Tunnel bleibt es immer dunkel.“

Dieser Ausspruch von Erich Kästner ist der Ausgangspunkt für die Gruppenausstellung in der Oberwelt und leiht ihr auch den Titel – der Zweizeiler ist ebenfalls mit „Die Grenzen der Aufklärung“ überschrieben. Der Spruch bietet viele Ebenen an die man anknüpfen kann: Zunächst ist er mit seinem einfachen Reim und der banalen Aussage einfach witzig. Gerade damit regt er aber zum Nachdenken an.

Einen ersten Anknüpfungspunkt kann der Tunnel bieten. In direkter Nachbarschaft zur Oberwelt liegt der Schwabtunnel – Ende des 19. Jahrhunderts einer der ersten innerstädtischen Tunnel Europas und seitdem in unterschiedlichen Rollen prägend für die Stadtlandschaft Stuttgarts. Auch metaphorisch gelesen ist der Tunnel ein starkes Bild; man denke zum Beispiel an das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels. Das Bild spielt mit den Gegensätzen von Licht und Dunkel und damit im übertragenen Sinne auch mit den Polen von Wissen und Nicht-Wissen und vielleicht sogar Gut und Böse. Dass all das auch schon bei Kästner angelegt ist, zeigt der Titel, mit dem er auf die Aufklärung mit ihrem rationalen Fortschrittsdenken verweist und ihren uneingeschränkten Geltungsanspruch gleichzeitig in Frage stellt.

Diese Überlegungen waren ein fruchtbarer Boden für die über 70 Künstler*innen, die sich mit ihren Arbeiten für die Ausstellung beworben haben. Unter ihnen sind Stuttgarter*innen, Künstler*innen aus ganz Baden-Württemberg und auch einige internationale Positionen. Sie gehen mit ihren Kunstwerken Fragen nach dem Stellenwert der Aufklärung, nach den Grenzen des Wissbaren und nach dem Stadterleben in Stuttgart nach. Ein paar dieser Arbeiten können hier stellvertretend ansehen, aber ein Besuch in der Oberwelt lohnt sich auf jeden Fall!

Ein erster Blick durchs Schaufenster

Durch das große Schaufenster sind die ersten Kunstwerke schon von der Straße aus zu sehen. Als erstes zieht ein schimmerndes X den Blick auf sich. Die Plastik von Traci Kelly mit dem Titel „You Might Not Be Here“ ist mit einer Vielzahl von Pailletten besetzt, die die Umgebung in vielen kleine Facetten spiegeln. In der Vielheit der Facetten widerspricht die Arbeit dem engstirnigen und auf ein einziges Ziel ausgerichtetem Tunneldenken.

Daneben steht unter anderem eine Plastik von Stefanie Reling-Burns: Zusammengesetzt aus Puppen aus dem Barbie-Franchise zeigt sie die Amazone Alexa, die sich auf ihrem treuen Begleiter, dem Kentauros, auf Reisen begibt. Sie ist ein Teil der Arbeit „Die Emanzipation der Amazone Alexa“, die im Innenraum mit einem Bild und einem Video auf uns wartet.

Blick durch das Schaufenster in die Ausstellung Grenzen der Aufklärung

Einen Überblick verschaffen

Die beiden Ausstellungsräume der Oberwelt bieten Platz für die größeren und kleineren Plastiken in der Mitte der Räume, an den Wänden sind die Arbeiten dicht gehängt. Zuerst muss man sich ein bisschen zurechtfinden und einsehen. Dann aber ermöglicht es die Hängung, Verbindungen zwischen Kunstwerken von verschiedenen Künstler*innen herzustellen.

Im ersten Raum begegnet uns Alexa die Amazone wieder an der Wand. Sie blickt uns selbstbewusst und in eine futuristische Plattenrüstung gekleidet an. Im dazugehörigen Video erklärt Alexa, dass sie sich von ihrer langweiligen und erniedrigenden Arbeit als technische Haushaltshelferin emanzipiert. Die Künstlerin arbeitet wie auch Kästner mit Witz, um uns auf eine Paradoxie unseres Lebens zu stoßen: War eines der Versprechen der Aufklärung auch ein gutes Leben für alle, so verspricht der Versandhandel Amazon vor allem Waren bequem und im Handumdrehen. Die Kehrseite dessen ist jedoch bekannt: Diese Angebotsfülle und Geschwindigkeit funktionieren nur auf dem Rücken anderer.

Eine weitere Videoarbeit stammt von der Norwegerin Rita Marhaug. Sie filmt sich am Strand einer Lofoteninsel während sie ein Bad in einer schwarzen Flüssigkeit nimmt. Die Flüssigkeit erscheint zäh, klebt an ihrem Körper und bedeckt sie nach und nach mit einer undurchsichtigen Schicht. Die Assoziation zum Erdöl ist naheliegend – vor der Küste der Lofoten wird Öl vermutet, bis jetzt ist die Region aber noch geschützt. Die Arbeit thematisiert unsere Abhängigkeit von der Petrochemie, die auch ein Resultat des unreflektierten Fortschrittsdenkens der Aufklärung ist. Als Gegenentwurf setzt die Künstlerin dem eine unmittelbare und empathische Verbindung zur Natur gegenüber.

Evangelia Ntouni, Im Schatten der Zweckmäßigkeit, Gips, 2023

Evangelia Ntouni hat eine Arbeit direkt im Ausstellungsraum installiert. Die Installation mit dem Titel „Im Schatten der Zweckmäßigkeit“ steht genau am Übergang zum zweiten Raum der Ausstellung und besteht aus Gips, der in vielen Schichten auf eine Schalung aufgetragen wurde, bis er von alleine stehen konnte. Dass das Material dennoch fragil ist, zeigt die Veränderung, die im Laufe des Eröffnungsabends entstanden ist: Am Boden ist der weiße Gips grau verfärbt und an einer Seite ist ein Teil der Wand abgebrochen. Die Arbeit nimmt den Tunnel als Denkfigur auf – er dient zur praktischen Überwindung einer Wegstrecke und der Überwindung von Distanzen; er verbindet. Gleichzeitig handelt es sich bei ihm um einen Eingriff in den Umraum, der Veränderungen unterworfen ist.

Tiefer in die Ausstellung eingestiegen

Ezgi Böttger, New Normal, Stickerey, Druck, Mixed Media, 2021

Im zweiten kleineren Raum der Ausstellung präsentiert Ezgi Böttger eine Mixed Media Arbeit, zum Teil auf Stoff gedruckt, zum Teil gestickt. Zu sehen ist ein abstrahiertes, menschliches Skelett, um das herum Begriffe wie „Old World / New World“, „Digital Transformation“, „Lockdown“ und „Distance“ angeordnet sind. Unter anderem der Titel „New Normal“ verortet die Arbeit im Kontext der Corona-Pandemie. Zentral an der Oberkante ist die römische Zahl XIII zu sehen, mit deren Hilfe man das Bild als die Tarotkarte des Todes identifizieren kann. Die Bedeutung der Karte steht nicht einfach für den Tod sondern für Umbruch und Transformation. Dieser muss nicht negativ sein, vielmehr soll man sich auf die Veränderung einlassen.

Iris Merkle, ohne Titel, Bronze, 2019

Iris Merkle zeigt drei Täfelchen, die zunächst vielleicht unscheinbar erscheinen. Sobald man sich näher mit ihnen beschäftigt, bemerkt man feine Oberflächenstrukturen und die changierenden Farben des Metalls. Die Arbeiten ohne Titel entstehen als Bronzeguss mit verlorener Form. Die dunkle Patina und die changierenden Formen entstehen in diesem Arbeitsprozess. Merkle steht mit diesen Arbeiten für eine starke Verbindung zur Welt ein. Ihre Haltung beschreibt sie in Fortentwicklung von René Descartes als „Ich fühle, also bin ich“. Die Kunstwerke zeugen davon: Die natürlichen Prozesse sollen bei der Herstellung der Werke nicht überwunden werden, sondern sind Teil der Formgebung.

Leonie Lass, Standbilder, Bio-Kunststoff, 2023

Fast ein wenig versteckt befinden sich die kleinen Arbeiten von Leonie Lass auf dem Türsturz zurück in den größeren Raum. Lass hat Reiterstandbilder in Stuttgart fotografisch erfasst und in dreidimensionale, digitale Objekte übersetzt. Diese druckt sie wiederum fragmentarisch auf einem 3D -Drucker aus: Die Reiter werden nicht mitgedruckt, so dass jeweils nur die Sockel und ein Teil der Pferdebeine zu sehen sind. Das Fragment nimmt den Statuen nicht nur ihre Individualität und damit ihren ursprünglichen Sinn, sondern zeigt auch auf, durch wie viele Übersetzungsprozesse und Medien sie gegangen sind. Die Arbeit ist eine Aneignung von Kunstwerken im Öffentlichen Raum und ein Ausdruck eines persönlichen Erlebens der Stadt Stuttgart.

Vielfältige Antworten

Auch wenn wir nun nur eine kleine Auswahl der Kunstwerke besprochen haben, die in der Ausstellung zu sehen sind, so dürfte doch die Fülle und Vielfältigkeit der Schau angeklungen sein. Die Künstler*innen reagieren auf ganz unterschiedliche Weise auf das gegebene Thema und geben jeweils ihre eigenen Antworten zu den Grenzen der Aufklärung.

„Grenzen der Aufklärung“ läuft noch bis zum 30. September 2023. Die Ausstellung kann nach Vereinbarung besucht werden. Als Vernissage ist am Samstag, den 30. September um 19 Uhr eine Lecture unter dem Titel „Die Wurmlochhypothese – Eine Aneignung“ von Eva-Maria Reiner geplant.

Oberwelt e.V., Reinsburgstr. 93, 70197 Stuttgart | www.oberwelt.de

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