Wenn Herr Pfennig und Frau Liebe sich streiten: Eine Ausstellung durch die Bildwelten und die Literaturen des Mittelalters

Personifikationen sind in unserem alltäglichen Sprach- und Bildgebrauch fest verankert und keine Unbekannten. Ein Projekt des Sonderforschungsbereiches „Andere Ästhetik“ der Universität Tübingen befasst sich mit Personifikationen in Literatur und Bildkünsten des Mittelalters. In einem Seminar haben die Projektleiterinnen Sandra Linden und Daniela Wagner gemeinsam mit ihren Studierenden 25 literarische und visuelle Darstellungen mittelalterlicher Personifikationen untersucht und nun in einer digitalen Ausstellung veröffentlicht.

Die Verlebendigung von Dingen oder abstrakten Konzepten nennt man in der Rhetorik „Personifikation“. In der Werbung zum Beispiel bekommt ein Putzmittel ein muskelbepacktes Eigenleben und wischt ganz praktisch selbst den Dreck weg. Der Gebrauch von Personifikationen in Objekten, Malereien und Literaturen des Mittelalters wird den Betrachter*innen in einer an der Uni Tübingen konzipierten, digitalen Ausstellung näher gebracht.

Digitale Ausstellung  “Personifikationen. Begriffe, Ideen und ihre mittelalterlichen Verkörperungen”
Auszug aus der Digitalen Ausstellung “Personifikationen. Begriffe, Ideen und ihre mittelalterlichen Verkörperungen”

Mittelalterliche Lebenswelten

In der Ausstellung “Personifikationen. Begriffe, Ideen und ihre mittelalterlichen Verkörperungen” bekommen die Betrachter*innen in aller Kürze einen umfassenden Einblick in Darstellungen von „Kunst und Wissenschaft“, „Inneren Instanzen“, „Städten und Ländern“, „Materielles Gut“, „Vergänglichkeit und Schicksal“ und „Liebe“. Innerhalb dieser Kategorien werden zahlreiche personifizierte Konzepte, wie Tugenden oder Laster vorgestellt. Aber auch Städte, Länder, die Liebe oder die Armut bevölkern die mittelalterliche Welt. Durch die Verlebendigung werden diese Konzepte greifbarer und wir können uns zu ihnen in Beziehung setzen. Durch die lebendige bildliche Darstellung der Wissenschaften wird beispielsweise das Wissenssystem anschaulich gemacht, das dem mittelalterlichen Bildungssystem zugrunde lag. 

Bildung bestand im Mittelalter aus den schon in der Antike formulierten artes: den sieben Freien Künsten. Als Königin der sieben Freien Künste galt die Philosophie, die entsprechend mit Krone über allen Künsten dargestellt wird, wie auch in den ausgewählten „Exponaten“ aus Strasbourg und New York zu sehen ist. Als Grundlage des Wissens galten die Grammatik, Rhetorik und Dialektik, die im Trivium, einem Grundlagenstudium, zusammengefasst waren. Die Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie bauten im Quadrivium darauf auf. In der Ausstellung werden die Personifikationen dieser Fächer anhand der Exponate vorgestellt und besprochen. 

Die Philosophie nährt die sieben freien Künste
Die Philosophie nährt die sieben freien Künste, Manuskript-Einzelblatt unbekannter Herkunft, ca. 1160. Zeichnung auf Pergament, 29,7×19,5 cm (Blatt). ©New York, Pierpont Morgan Library, MS M.982

Jede Personifikation besitzt ein eigenes Attribut, also einen Gegenstand, der sie auszeichnet und erkennbar macht. Die Rhetorik tritt in den Darstellungen mit Zeigestab und Buch auf, die Musik mit einem Musikinstrument, häufig einer Harfe. Nicht immer ist der gemeinte Gegenstand und die gemeinte Personifikation so einfach zu erkennen wie in den Darstellungen der sieben Freien Künste. Doppelbedeutungen können zum Beispiel erwünscht sein und die Betrachter*innen oder die Leser*innen zum Denken anregen.

Frau Kunst klagt an

Die ausgewählten Beispiele machen Freude, denn sie sind selbst nach 900 Jahren noch aktuell. Konrad von Würzburg, ein Dichter aus dem 13. Jh., verfasste eine allegorische Gerichtsverhandlung, in der die Kunst die Falsche Milde wegen Vernachlässigung anklagt. Sie zeigt ein für Autor*innen und Künstler*innen nach wie vor akutes Thema auf und Meister Konrad beschreibt es in aller Lebendigkeit: Viele Gönner entlohnen eine gute und rechtmäßige Ausübung der Kunst nicht adäquat (wobei er wahrscheinlich seine eigene Kunst, die Dichtkunst meint). Darüber richten soll die Gerechtigkeit mit ihren elf Schöffinnen, unter anderem sind das die Barmherzigkeit, die Bescheidenheit, das Ansehen und die Sittsamkeit. Die Beschreibung des Gerichts ist in der Ausstellung neben der neudeutschen Übersetzung auf mittelhochdeutsch zu lesen und sogar auf mittelhochdeutsch zu hören. Leider wird nicht klar, wer die Tonaufnahmen aufgenommen hat und dem Lied von Meister Konrad die Stimme geliehen hat.

Auszug aus der Ausstellung: Konrad von Würzburg und seine „Klage der Kunst“

Alte Bekannte

Einige der Verkörperungen haben außerdem einen hohen Wiedererkennungswert. Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens war vor 1000 Jahren ein Thema, das Beachtung fand, das aber auch eng mit dem Schicksal verwoben war. Tod und Schicksal werden in den Objekten und Texten zu greifbaren Figuren, die den Menschen ein Erklärungsmuster für unerwartete Wendungen im Leben liefern können. Auch heute kennen wir zum Beispiel „Gevatter Tod“ aus den Scheibenweltromanen von Terry Pratchett, von Heavy Metal Plattencovern oder aus zahllosen Cartoons. Man kann mit dieser Ausstellung ein wenig nachvollziehen, wie diesen abstrakten Konzepten schon im Mittelalter Leben eingehaucht wurde und wie sich dieses Leben bis in unsere Zeit verstetigt hat.

Die Personifikation des Todes
Unbekannter Drucker nach Marcantonio Raimondi, Personifikation des Todes, 1500–1549. Kupferstich, 8,0×4,9 cm. ©Amsterdam, Rijksmuseum

Große Bandbreite an Exponaten

Unter den Exponaten befinden sich nicht nur Schriftstücke oder Bilder auf Pergament, sondern zum Beispiel auch eine Elfenbeinschnitzerei eines Psalter Einbandes. Auf diesem bekriegen sich im Blattwerk zwischen den Kreismedaillons die Tugenden und Laster dieser Welt. Zur eindeutigen Identifikation der Tugenden und der Laster hatte der Schnitzer den Personifikationen Schriftbänder beigefügt. So kommt keine Verwechslung zustande und es wird klar kommuniziert, wer gewinnt. Natürlich ist es der Glaube, der über den Götzendienst siegen wird. Ein Schelm wer etwas anderes erwartet hatte.

Die gewählten Bildausschnitte geben einen guten Einblick in die Bildwelten des Mittelalters, während die Texte anschaulich erklären, was mit den Darstellungen gemeint ist und woran gewisse Personifikationen erkennbar sind. Die Möglichkeit, die Exponate bis ins Detail genau studieren zu können begeistert. Nicht besonders gut gelungen ist leider die Umsetzung der Seite, die gewählte Schrift und der schwarze Hintergrund machen die wichtigen einführenden Texte schwer lesbar, was zum Glück durch die anderen Schriftarten bei den Exponaten nicht der Fall ist. Die Verwendung der sich verändernden Typographie ist dabei leicht verwirrend und wir hätten uns mehr Stringenz im Design gewünscht.

Auszug aus der Ausstellung: Natura in der Schmiede
Auszug aus der Ausstellung: Natura in der Schmiede.
Darstellung: Sog. Meister des Girard Acarie, Darstellung der Natura in der Schmiede, ca. 1525. Guillaume de Lorris, Jean de Meun (Autoren) und Girard Acarie (Schreiber der Handschrift): Roman de la Rose. Deckfarben auf Pergament, 26,2 × 18,6 cm (Seite). ©New York, Pierpont Morgan Library, MS M.948, fol. 187r

Die Möglichkeiten des Digitalen genutzt

Seit uns durch die Pandemie der Besuch von Ausstellungen verwehrt blieb, ist das Angebot digitaler Ausstellungen gewachsen, zum Beispiel durch die Digitale Kunsthalle in der ZDF Mediathek. Digitale Ausstellungen existieren aber schon länger, auch wenn sie bisher nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit standen. Die Deutsche Digitale Bibliothek ermöglicht Kultureinrichtungen seit 2015 ihre Ausstellungen auch in den digitalen Raum zu transportieren. Die App Google Arts and Culture ist sogar schon seit zehn Jahren dabei, Museen und Ausstellungen von innen zu filmen und sie mit der Google Street View Technologie darzustellen. Allen Angeboten ist gemein, dass sie sich auf eine reale Ausstellungssituation berufen und diese durch Videoaufnahmen oder mehr oder weniger komplexe Fotografien in den digitalen Raum heben, ohne wirklich auf den digitalen Raum einzugehen. 

Konzipiert für den digitalen Raum

Die Ausstellung „Personifikationen. Begriffe, Ideen und ihre mittelalterlichen Verkörperungen“ ist nun explizit keine digitale Kopie einer realen Ausstellung, und sie war von vorneherein für den digitalen Raum konzipiert. Damit muss sie vollständig ohne reale Exponate auskommen. Was bei anderen Ausstellungen ein Manko wäre, ist für eine studentische Ausstellung mit Objekten aus dem Mittelalter nur schwer anders möglich. Die Objekte sind Unikate, also einzigartig und häufig empfindlich dazu. Unsere digital vernetzte Welt ermöglicht es nun, eine Ausstellung mit hervorragenden Objekten aus amerikanischen oder französischen Sammlungen zu machen, ohne dass Objekte oder das Budget darunter leiden.

Es ist erfreulich, dass sich die Lehre an den Universitäten dieser großartigen Möglichkeit bedient und sie nutzt. Damit soll das Erschaffen von Ausstellungen nicht ersetzt werden ist aber eine sinnvolle, lehrreiche, und – wie man sehen kann – auch ansprechende Ergänzung. Das Schaffen von Ausstellungen mit realen Exponaten ist in Tübingen mit dem Museen der Uni Tübingen möglich und geschieht im Bereich der Kunstgeschichte gemeinsam mit der Lehrsammlung der Graphischen Sammlung

Die Provinzen huldigen Otto III.
Die Provinzen huldigen Otto III., um 1000. Evangeliar Ottos III., Reichenau. ©Bayerische Staatsbibliothek Clm 4453

Unser Fazit

Eine schöne Ausstellung, die viel Tiefgang hat und einiges bietet, das entdeckt werden möchte. Das Wissen, das die Ausstellung hier vermittelt, ist für alle von Interesse, die sich für vormoderne Bildkünste interessieren: Die besprochenen Personifikationen tauchen nämlich in vielen Medien der frühen Neuzeit auf. Aber auch für diejenigen, die keinen konkreten Nutzen aus dieser Ausstellung schlagen möchten, ist sie ein Gewinn. Denn die Personifikationen geben Anlass, sich über das eigene Verständnis dieser Konzepte wie Liebe, die Heimatstadt oder die eigenen Laster zu machen. Wie würden wir denn die Personifikation von Tübingen heute darstellen? Oder kennt ihr eine gute zeitgemäße Darstellung von Frau Welt?

Übrigens: 

Habt ihr schon die Personifikation gesehen, die der Graffiti Writer SELER (LOC) unter der Blauen Brücke gemacht hat?