GEDOK Reutlingen – Herstory. Wie wir wurden, was wir sind. Volume III

Materialien und deren Haptik spielen bei der Auseinandersetzung mit Kunst eine wichtige Rolle. Welche Formen Materialien, wie Holz, Glas oder Keramik annehmen kann, erfahrt ihr in unserem dritten Text der Reihe “GEDOK Reutlingen - Herstory. Wie wir wurden, was wir sind.”. 

Materialien und deren Haptik spielen bei der Auseinandersetzung mit Kunst eine wichtige Rolle. Welche Formen Materialien, wie Holz, Glas oder Keramik annehmen kann, erfahrt ihr in unserem dritten Text der Reihe “GEDOK Reutlingen – Herstory. Wie wir wurden, was wir sind.”. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen sind dabei sowohl von intimen Emotionen der Künstlerinnen, als auch von Strömungen der Kunstgeschichte geprägt, in die sie sich einbetten.

Mehlika Tanriverdi: Summertime, 2014, Papier, Pyrografie auf Holz.

Mehlika Tanriverdi, Summertime, 2014, Papier, Pyrografie auf Holz

Der Sommer bringt eine befreite Gefühlswelt mit sich. Unterstützt werden diese Emotionen durch das Motiv. Eine weibliche Figur räkelt sich in einem weißen, leichten Kleid auf einer sommerlichen Wiese. Die Frau blickt uns an und scheint uns aufzufordern, das Gleiche zu tun und loszulassen. Die Anstrengungen des Alltags hinter sich zu lassen und sich mit der Natur zu vereinen. Wir nehmen diese Gedanken mit in unser Leben und fühlen uns beinahe selbst etwas erleichtert. 

Kenia Muscat, Armer Baum, 2020, Tuschfederzeichnung, Ätzradierung

Ein Baum, grau schattiert und filigran ausgearbeitet. Das sehen wir auf den ersten Blick. Bei intensiverer Betrachtung eröffnet sich eine mystische Welt. Hat der Baum mich gerade angesehen? Wir meinen Augen und Hände in der Oberflächenstruktur der Baumrinde zu erkennen, möchten etwas Menschliches in der dargestellten Pflanze erkennen. Tier- und Pflanzen verschmelzen. Der Pflanze wohnt etwas Animalisches inne. Womöglich sogar etwas Menschliches?

Kenia Muscat: Armer Baum, 2020, Tuschfederzeichnung, Ätzradierung.
Kenia Muscat: Wolkenbaum vor grauem Grund mit umgedrehtem Boot, 2020, Tuschfederzeichnung, Ätzradierung.

Kenia Muscat, Wolkenbaum vor grauem Grund mit umgedrehtem Boot, 2020, Tuschfederzeichnung, Ätzradierung

Der Titel des Werks beschreibt recht nüchtern was zu sehen ist. Das Motiv scheint jedoch keine einzelnen Objekte darzustellen, sondern auf eine traumhafte Art und Weise verbunden zu sein. Ähnlich einer Aura wabert ein schleierhaftes Gebilde um den Baum herum. Was sehen wir nun eigentlich? Einen Baum? Eine Traumdarstellung? Warum ist im Hintergrund ein umgedrehtes Boot zu sehen? Das Werk wirft zahlreiche Fragen auf, die wir nicht beantworten können. 

Helga Mayer: Unterbrochenes Netzwerk, 2020, Spraypaint auf Leinwand.

Helga Mayer, Unterbrochenes Netzwerk, 2020, Spraypaint auf Leinwand

Die Flächen überlagern sich, sodass sie zahlreiche undefinierbare Strukturen offen legen. Immer wieder tauchen netzartige Formen auf, die sich durch die Bildfläche ziehen. Unterbrochen werden sie von organischen, pflanzenähnlichen Objekten, die zwar undefinierbar bleiben, sich aber in die Netzstrukturen einbetten. Sie scheinen das Netz zu durchwachsen und das Rationale in der Vernetzung zu dominieren. 

Sigrid Lokowandt: Falkensteiner Höhle, 2016, Acryl, Glas.

Sigrid Lokowandt, Falkensteiner Höhle, 2016, Acryl, Glas

Die Falkensteiner Höhle wird meist mit einem Blick von Außen nach Innen verbunden. Forscher sind daran interessiert, was sich an möglichen Funden in den Räumen der Höhle befindet und Touristen möchten auf Entdeckungstour gehen. Doch hier scheinen wir uns in der Höhle zu befinden und durch den Eingang nach außen zu blicken. Wo wir das Dunkel der Höhle erwarten, sehen wir Tageslicht und das Grün der Bäume. Eine Umkehrung, die uns mit den Blickwinkeln konfrontiert, die wir fast selbstverständlich in unserem Alltag einnehmen. 

Birgit Hartenstein: Vielblättrig, 2011, Acryl auf Leinwand.

Birgit Hartenstein, Vielblättrig, 2011, Acryl auf Leinwand

Umrahmt von grauen Strukturen, bildet sich ein farbiges Rechteck heraus. Wie ein Fenster in ferne Welten, blickt man in einen Urwald. Riesige Blätter, Blüten und Lianen drängen sich in den Bildmittelpunkt. Versperren sie die Sicht auf etwas oder stellen sie selbst das Motiv dar? Man vergisst fast, was man tatsächlich sieht und taucht ein in die Natur des Dargestellten. Das Grau der hiesigen Welt verschwindet und alleine das farbige Zentrum des Gemäldes entfaltet seine volle Wirkkraft. 

Margarete List: Freisein, 1992, Papier.

Margarete List, Freisein, 1992, Papier

Die Kanten des Papiers zeigen den Betrachtenden, dass sie es hier mit einer flachen Oberfläche zu tun haben. Doch es scheinen sich Strukturen auf der Oberfläche aufzutun, Farbflächen scheinen sich abzuheben und das Motiv bewegt sich beinahe schon auf uns zu. Frei von den Gesetzen der Physik findet eine aufstrebende Bewegung statt. Um was es sich bei dem Dargestellten handelt, wird nicht klar – muss nicht klar werden. Durch individuelle Erfahrungen beeinflusst, entsteht ein subjektiver Blick auf das Freie im Raum.

Heidi Degenhardt, CORP 1-3. 2008, Keramik

Ohne Beine und ohne Arme, reduziert auf die Erscheinung des Torsos, steht uns eine Frauenfigur gegenüber. Das Objekt ist dreigeteilt in Brust, Bauch und Schambereich bzw. Oberschenkel. Der Blick wird so auf die Geschlechtsmerkmale der Frau gelenkt, denn die Brust und der Schambereich werden separiert und anonym wahrgenommen. Allerdings findet keine Reduktion auf das Objekt statt, denn die Frauenfigur wird trotz der räumlichen Trennung und des Fehlens eines personalisierenden Kopfes, als Ganzes, als Frau wahrgenommen. 

Antje Weiß: Aus 1 mach 2, 1994, Kupfer, Edelstahl, Silber, Gold.

Antje Weiß, Aus 1 mach 2, 1994, Kupfer, Edelstahl, Silber, Gold

Kupfer und Gold mischen sich hier zu einem eigentümlichen Erscheinungsbild. Das Kupfer offenbart uns seinen bräunlichen Farbton. Das Gold blitzt in Form kleiner Versatzstücke in der kupfernen Oberfläche auf. Fast wie funkelnde Sterne wirken sie, wie Boten aus einer fernen Galaxie in der rauen Fläche. Geformt wie ein Bogen, wird das Objekt durch eine glänzende, silberne und feingliedrige Verbindung zu seiner Gesamtheit ergänzt. Gegensätze, die in der Summe ein ausgeglichenes und wohlgeformtes Kunstwerk bilden. 

Antje Weiß: Vanitas, 2020, Silber, Goldplattierung, Granat.

Antje Weiß, Vanitas, 2020, Silber, Goldplattierung, Granat

Gesäumt von getrockneten Granatapfelhälften entdecken wir ein kleines goldenes Objekt, das in der Funktion eines Anhängers an mehreren schwarzen Riemen präsentiert wird. Erinnerungen an einen Apfel oder eine große Nuss kommen auf und wir fragen uns, ob sich wohl etwas im Inneren befindet. Die Ähnlichkeit mit den umliegenden Granatäpfeln, die dem Prozess des Vergehens unterliegen und in diesem schon weit fortgeschritten sind, bringt uns allerdings zu einem anderen Gedanken: Das Werk ist in seiner Erscheinung von jeglichen Vergänglichkeitsprozessen losgelöst. Während das organische Material, aus dem wir alle bestehen, unvermeidbar dem Verfall unterliegt, bleibt das Werk bestehen. Für die Ewigkeit an das Vergehen unseres Daseins erinnernd.

Susanne Reusch: Aus dem Eis erblüht, 2021, Glas (Fusing).

Susanne Reusch, Aus dem Eis erblüht, 2021, Glas (Fusing)

Das türkise Schimmern in der Oberfläche des Objektes aus Glas, lässt uns unmittelbar an Eis und dessen kühle Erscheinung denken. Die ausufernden Formen und die Strukturen, die in der Bewegung stehen geblieben zu scheinen, unterstützen diesen Eindruck. Allerdings lädt die Form eines Behältnisses, einer Schale oder einer Vase dazu ein mit ihr in Interaktion zu treten. Während das Eis also eine zerbrechliche und abweisende Wirkung auf uns hat, fühlen wir uns doch von dem Objekt eingeladen näher zu treten und es womöglich sogar anzufassen. 

Randi Kvanka: Zweifingerring, 1997, Silber, Papier.

Randi Kvanka, Zweifingerring, 1997, Silber, Papier

Skurril, an ein Objekt aus einer Wunderkammer erinnernd, liegt er da, der Zweifingerring. Aufgrund des Materials Papier, scheint er für die Benutzung völlig ungeeignet zu sein, könnte er doch bei der geringsten Berührung zerbrechen. Das unterstützt die seltsame Erscheinung des Rings, der lediglich angesehen werden darf. EIn Paradox, das den Schmuck allerdings auf eine neue Ebene hebt. Die Unmöglichkeit ihn als solches zu benutzen, macht ihn somit zur Kunst. 

Sigrid Lokowandt, Ein Ärgernis, 1987 – und Nächtliche Begegnung, 1987, beide Öl auf Leinwand

Zu sehen ist auf beiden Werken der Innenraum eines Museums. Skulpturen in diesem Raum lassen im Vordergrund eine Frauenfigur auf einem Löwen liegend erkennen. Bemerkenswert ist allerdings das, was um die Ausstellungsobjekte passiert. Einmal sehen wir zwei Besucherinnen, die sich intensiv mit den Werken auseinandersetzen. Das andere Werk zeigt eine Putzfrau, die außerhalb des Besucherverkehrs ihrer Aufgabe, den Raum zu säubern nachgeht und den Kunstwerken keinerlei Aufmerksamkeit schenkt. Eine gegensätzliche Wahrnehmung des Raumes entsteht, die uns vor Augen führt, was abseits unseres Besuchs im Ausstellungsraum stattfindet und gleichermaßen zur Ausstellung gehört.