Form, Farbe, Konkret – von Reutlingen über Stuttgart nach London

Gläserene Härten, system&intuition und die Pinonierin der Abstraktion: Sophie Taeuber-Arp – es sind Ausstellungen, die sich mit einer Kunstrichtung auseinandersetzen, die gerne als schwer zugänglich bezeichnet wird: die Konkrete Kunst.

konkrete kunst nennen wir jene kunstwerke, die aufgrund ihrer ureigenen mittel und gesetzmässigkeiten – ohne äusserliche anlehnung an naturerscheinungen oder deren transformierung, also nicht durch abstraktion – entstanden sind. konkrete kunst ist in ihrer eigenart selbständig. sie ist der ausdruck des menschlichen geistes, für den menschlichen geist bestimmt, und sie sei von jener schärfe, eindeutigkeit und vollkommenheit, wie dies von werken des menschlichen geistes erwartet werden muss. konkrete malerei und plastik ist die gestaltung von optisch wahrnehmbarem. ihre gestaltungsmittel sind die farben, der raum, das licht und die bewegung… konkrete kunst ist in ihrer letzten konsequenz der reine ausdruck von harmonischem mass und gesetz. sie ordnet systeme und gibt mit künstlerischen mitteln diesen ordnungen das leben… sie erstrebt das universelle und pflegt dennoch das einmalige. sie drängt das individualistische zurück, zugunsten des individuums.“ 

Diese Definition formulierte 1949 der Künstler und Architekt Max Bill (*1908, † 1944) in seinem Einleitungstext der Publikation zur Ausstellung Zürcher konkrete Kunst, die in Stuttgart, München und Zürich gezeigt wurde. Worte, die heute noch nachhallen und die mich persönlich immer schon neugierig machten. Im Zentrum der Konkreten Kunst steht eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Form und Farbe. Geometrie und Logik – mathematische Konstrukte, die mit zur Erforschung von Form und Farbe im künstlerischen Prozess beigetragen haben. Viele bekannte Künstler*innen setzten sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv mit diesen Aspekten auseinander und hielten ihre Ergebnisse in Kunstwerken wie auch in ihren Schriftformen fest. 

Gläserne Härten

Im Kunstmuseum Reutlingen | konkret lief über die Herbst- und Wintermonate 2020/2021 die Ausstellung Gläserne Härten. Konkrete, generative und sonisch visionäre Kunst 1960-2020. Gezeigt wurden 30 Werke aus der Sammlung von insgesamt 16 renommierten Künstler*innen. Ergänzt wurden diese durch Performances, Videos und multimediale Konzerte. So wurde hier auf eine äußerst beeindruckende Art und Weise die Verbindung, ja die enge Verwandtschaft zwischen audio-visueller Komposition zeitgenössischer Musik und konkreter bildender Kunst präsentiert. Corona hat leider auch dieser Ausstellung viel Besucher*innenzeit verwehrt. Doch haben sich Holger Kube Ventura und seine Assistentin Maren Keß-Hälbig viele Formate überlegt, die auch während den Schließungen die Ausstellung erfahrbar gemacht haben. Eines hat sogar dauerhaften Fortbestand – ein virtueller Rundgang durch die Räumlichkeiten des Kunstmuseum Reutlingen | konkret und somit durch die Ausstellung Gläserne Härten: https://panorama.absurd-orange.de/wandel-hallen/

Wir hatten glücklicherweise die Gelegenheit die Präsentation der Werke live erleben zu können und wollen euch heute ein paar Werke vorstellen.

Götz Arndt – organischer Beton

Hart, schwer und starr – Adjektive, die uns im Bezug zu Beton sofort einfallen. Dieses Material verbinden wir mit Architektur, mit Mauern, mit Böden, in seltenen Fällen auch mit Einrichtungsgegenständen. Die 1995 entstandene Arbeit „dix“ von Götz Arndt spielt mit unserer persönlichen Wahrnehmung hinsichtlich diesem einzigartigen Material. „dix“ besteht aus neun gleich großen quadratischen gegossenen Stahlbeton-Elementen. Jeder Quadratmeter gleicht einem Gitter – in jede Platte wurden 36 kleine gleichgroße Quadrate, Negativformen, integriert. Geometrische Figuren, Sichtbeton – unter anderem Schlagworte, die wir mit dem Brutalismus in Verbindung setzen. Spielt Arndt auf die durchbrochenen Fassaden an?

Das zehnte quadratische Betongitter der Arbeit dix von Arendt biegt sich nach oben.
Götz Arndt. dix. 1995. Ausstellungsansicht Kunstmuseum Reutlingen | konkret, 2020. © Künstler, Kunstmuseum Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß.

3 x 3 Platten fügen sich zu einem großen 3 x 3 Meter großen, auf dem Boden liegenden Quadrat zusammen. Doch eine zehnte bricht aus dem beschrieben Muster aus. Sie biegt sich. Sie sucht den Weg in die Höhe. Sie schenkt dem starren Quadrat Bewegung. 

Rom Gaastra – der Code der Farbe

Man könnte sie als sechs für sich stehende Farb-Raum-Objekte bezeichnen, die an durchsichtigen Schnüren hängenden Kunstwerke von Rom Gaastra (*1952). Oder auch als Farb-Experimentationsräume, die sich im Aufbau alle gleichen: 

„An den vier Außenkanten eines frontalen Mittelfelds sind nach hinten geklappte, schmale Streifen angefügt, die das Bild zu einem fünfflächigen plastischen Körper werden lassen; sie heben es aus der Zweidimensionalität heraus und wölben sein Zentrum den Betrachter*innen entgegen. Die Seitenteile erinnern an Flügel (oder an eine umgekehrte, sich öffnende Kiste) und übernehmen die traditionelle Funktion eines Rahmens, ohne aber darin aufzugehen: Sie bleiben zugleich Bestandteil der Malerei. Als Hybride aus räumlichem Korpus und flächiger Spannung zwischen Farben problematisiert jedes von Gaastras Objekten den Begriff Gemälde.” (Holger Kube-Ventura. Gläserne Härten. Konkrete Kunst als Medium. Kunstmuseum Reutlingen / konkret, 2020, S. 41.)

Die gewählte Hängung im Ausstellungsraum konfrontiert uns vorerst mit der Vorderseite der Kunstwerke. Jeweils zwei Farben, eine auf der unteren, die andere auf der oberen Hälfte des Holzobjektes. Interessant sind die unterschiedlichen Tönungen derselben Farbe, denn durch die nach hinten geklappten Seitenteile nehmen wir sie aufgrund des Lichteinfalls verschieden wahr. 

Das Video zeigt: Rom Gaastra. N°32 (G 91/06) (1993–97). Acryl auf Holz, 31,5 x 28,5 x 6 cm. N°285 (G 172/06) (1993–2000). Acryl auf Holz, 33 x 29,5 x 6 cm. N°290 (G 79/06) (1994). Acryl auf Holz, 31,5 x 28,5 x 6 cm. N°292 (G 85/06) (1994–2002). Acryl auf Holz, 32 x 29 x 6 cm. N°480 (G 94/06) (1996–97). Acryl auf Holz, 32 x 29 x 6 cm. N°468 (G 88/06) (1997–2002). Acryl auf Holz, 33,5 x 29,5 x 6 cm. Ausstellungsansicht Kunstmuseum Reutlingen | konkret, 2020. © Künstler, Kunstmuseum Reutlingen. Video: Elisabeth Weiß.

Betrachten wir die Rückseite, wird klar, dass diese Objekte Experimentierräume sind. Kleine Farbstriche inklusive Jahreszahlen zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung und Beobachtung des Gaastras. Man kann von einem Protokoll sprechen – der Künstler dokumentierte so, ob er die untere oder obere Seite und vor allem mit welcher Farbe er diese übermalte. So entstanden über die Jahre unzählige Kombinationen.

Das Video zeigt: Rom Gaastra. N°32 (G 91/06) (1993–97). Acryl auf Holz, 31,5 x 28,5 x 6 cm. N°285 (G 172/06) (1993–2000). Acryl auf Holz, 33 x 29,5 x 6 cm. N°290 (G 79/06) (1994). Acryl auf Holz, 31,5 x 28,5 x 6 cm. N°292 (G 85/06) (1994–2002). Acryl auf Holz, 32 x 29 x 6 cm. N°480 (G 94/06) (1996–97). Acryl auf Holz, 32 x 29 x 6 cm. N°468 (G 88/06) (1997–2002). Acryl auf Holz, 33,5 x 29,5 x 6 cm. Ausstellungsansicht Kunstmuseum Reutlingen | konkret, 2020. © Künstler, Kunstmuseum Reutlingen. Video: Elisabeth Weiß.

zwischen system&intuition

Zahlreiche Künstlerinnen, wie Verena Loewensberg (*1912, †1986) oder Sonia Delaunay-Terk (*1885, †1979), zählen zu den Vertreter*innen der konkret(-konstruktivistischen) Kunst. Doch welchen Herausforderungen standen sie hinsichtlich Ausbildung gegenüber? Welche Rolle spielten sie innerhalb der etablierten Künstler*innen-Netzwerke jener Zeit? Wie und wo wurden ihre Arbeiten präsentiert? Fragen über Fragen, auf die sich in der aktuellen Ausstellung zwischen system&intuition: KONKRETE KÜNSTLERINNEN im Kunstmuseum Stuttgart Antworten finden lassen. Eingebettet in diesen Kontext finden zwölf Künstler*innen mit ihren Werkgruppen bis zum 17. Oktober 2021 erstmals in Deutschland einen Auftritt. Freut euch auf kommenden Sonntag, denn Jessica wird euch auf dem Blog etwas mehr über die Ausstellung berichten

Im folgenden Video könnt ihr ein Kunstwerk der Künstlerin Sophie Taeuber-Arp (*1889, †1943) kennenlernen:

Sophie Taeuber-Arp

Die Arbeiten Sophie Taeuber-Arps, denen ich bis dato erleben durfte, lösten in mir immer höchste Bewunderung aus. Ihr Œuvre ist vielfältig – Textilien, Perlenarbeiten, Möbel, Grafikdesign, Malerei, Zeichnung, Skulptur und Reliefs, um hier nur eine kleine Auswahl zu nennen. Ihr Schaffen kann als interdisziplinär bezeichnet werden. Sie schenkte dem Handwerk einen neuen Auftritt, indem sie es mit der Formensprache der modernen Abstraktion in Einklang brachte. Wie sich ihre künstlerische Ausdrucksweise wohl noch entwickelt hätte, wenn sie 1943 nicht tödlich verunglückt wäre? 


Zweifellos zählt sie als Pionierin der Abstraktion. Die Ausstellung Sophie Taeuber-Arp in der Tate Modern vom 15. Juli bis 17. Oktober 2021 vereint Arbeiten aus den bedeutendsten Sammlungen Europas und den USA. Sie entstand in Kooperation mit dem Museum of Modern Art, New York und dem Kunstmuseum Basel. Ich kann es nicht erwarten sie zu sehen. Bis 20. Juni 2021 lief übrigens in Basel die Ausstellung Sophie Taeuber-Arp. Gelebte Abstraktion. Hier ein paar Worte der Kuratorin Eva Reifert, die uns wirklich einen tollen Einblick in Taeuber-Arps künstlerisches Schaffen schenkt: