Pflanzliches aus Stahl und Eisen – Manuela Tirlers „Schattengewächse“

Sie wachsen aus den Wänden, liegen auf dem Boden und türmen sich auf zu meterhohen Stelen. Manuela Tirlers organische Stahlskulpturen erinnern an Pflanzliches und erscheinen doch gleichzeitig enorm surreal. 2019 verwandelten ihre “Schattengewächse” die pfälzische Galerie Ruppert in einen ganz eigenen Lebensraum unerforschter Flora und Fauna. Hier erfahrt ihr mehr über diese unbekannte Landschaft und ihre zahlreichen Bewohner!

In Manuela Tirlers filigranen und doch keinesfalls fragilen Stahl- und Eisenarbeiten treffen wir auf verschiedenste Weisen auf Organisches – zumindest vermeintlich. Grundlage ist meist ein komplexes Geflecht aus stählernen Bahnen. Unzählige einzelne Stränge und Fäden verzweigen sich wie Äste oder schließen sich zu einer gewebeartigen Oberfläche zusammen. Trotz ihrer abstrakten Formen erinnern Manuela Tirlers Plastiken an Pflanzliches – an Formen wie Grasbüschel, sich um etwas windende Pflanzenranken oder aus der Wand sprießende Gewächse und Organismen. 

Ausstellungsansicht „Schattengewächse“, Galerie Ruppert, Birkweiler, 2019. Foto: Galerie Ruppert.

Mag von Weitem der Eindruck zerbrechlicher Gebilde entstehen, wird aus nächster Nähe erst die eigentliche Starrheit des Materials spürbar. Jede Arbeit strahlt einen gewissen Widerstand aus. Denn Armierungseisen und Stahlrohre nehmen solche Formen nun mal nicht auf natürliche Weise an. Die Spuren der Be- und Abarbeitung des Materials, die Schweißnähte und scharfen Grate, zeigen sich völlig selbstbewusst. Anstatt Natur zu imitieren, erzeugt Tirler ganz buchstäblich Spannung aus der Überwindung des Materials. Die Gartenskulptur „Quake“ („Beben“) wurde z. B. mit Dynamit gesprengt. Dabei lässt auch von einer Art Kräftemessen sprechen, in dem sich die Künstlerin dem Material stellt und es in einen künstlerischen Prozess überführt. Rückt man näher heran, sind häufig sogar die Riffelungen der industriellen Fertigung noch zu erkennen. 

  • Manuela Tirler. Quake V, 2011. Foto: Galerie Ruppert.
  • Manuela Tirler. Grape VIII, 2016. Foto: Galerie Ruppert.

Zwischen Organik und Geometrie 

Mal stahlgrau, mal bräunlich und rostrot, verwendet Manuela Tirler farblich eher gedeckte Töne und verstärkt dadurch den natürlich-pflanzlichen Eindruck ihrer Plastiken. Die variable Bearbeitung – mal glatt und edel, mal grob geriffelt – lenkt die Wahrnehmung schließlich auch auf das Baumaterial selbst. Die Ästhetik des Natürlichen kommt dabei stetig ins Schwanken. Gleichzeitig entstehen durch die feinen Überlagerungen der durchlässigen Oberflächen geradezu lebendige Schattenspiele. Ein andauernder Widerspruch von Assoziation und tatsächlicher Beschaffenheit bleibt bestehen, der ebenfalls die eigene Wahrnehmung auf die Probe stellt.

Archaische Relikte

Massive geometrische Sockel verwandeln ein „Waldstück“ oder eine in die Höhe ragende  „Unkraut-Steele“ nun in fast schon archaische Relikte unbekannter Kulturen und Lebensräume. Wir als Betrachter*innen werden also planmäßig verunsichert. Ästhetische Spuren geben dem Auge zwar einen Ankerpunkt, was man zu kennen glaubt, löst sich aber nicht ein. 

  • Ausstellungsansicht "Schattengewächse". Galerie Ruppert, 2019. Foto: Galerie Ruppert.
  • Manuela Tirler, Waldstück LIX, 2016. Foto: Galerie Ruppert.
  • Manuela Tirler, Weed Disc I, 2018. Foto: Galerie Ruppert.

Organik und Geometrie stehen in einer fortwährenden Spannung. Die Arbeit „Weed-Disc“ formt ein kreisrundes, einigermaßen chaotisches und dennoch ausgewogenes Stahlgewebe. Dabei scheint es fast so, als hätte sich dieses Netz langsam über einem runden Gegenstand ausgebreitet und ihn schließlich unter sich aufgelöst. Tirlers geometrische Hohlräume, sei es in Form von Kuben, Ellipsen oder kosmisch angehauchten „Unkraut-Sphären“, verbinden dabei mathematische Starrheit im Äußeren mit chaotischer Willkür im Inneren. 

Ausstellungsansicht "Schattengewächse", Galerie Ruppert, 2019. Foto: Galerie Ruppert.
Ausstellungsansicht „Schattengewächse“, Galerie Ruppert, 2019. Foto: Galerie Ruppert.

Angenehmes Schaudern 

Die gleichzeitige An- und Abwesenheit menschlicher oder zumindest menschenähnlicher Existenz ist in vielen Arbeiten Manuela Tirlers unmittelbar zu spüren. Einer grundsätzlichen Neugier für die Eisen-Stahlgebilde mag sich nun ein Gefühl latenter Unsicherheit anschließen. Die Arbeit „Weed-Carnivore“ könnte beispielsweise ein angenehmes Schaudern provozieren: Tirlers fleischfressende Pflanze aus der Familie der Unkräuter erreicht im Durchmesser knapp einen Meter, was eine gewisse Vorsicht gebietet. Da das Auge unmittelbar nach bekannten Formen sucht, schaltet sich auch die Fantasie mit ein. Spiralartig scheint sich das Stahlgewebe auszubreiten und nur darauf zu warten, dass jemand oder etwas durch die hypnotisierende Sogbewegung in seinen Bann gezogen wird. 

  • Manuela Tirler. Weed Carnivore II, 2016. Foto: Galerie Ruppert.
  • Ausstellungsansicht "Schattengewäche", Galerie Ruppert, 2019. Foto: Galerie Ruppert.

Auch die Gruppe spinnenartiger „Sprösslinge“ bedient eine Vorliebe für das Skurril-Bedrohliche. An der Wand platziert, als krabbelten die Plastiken auf einen zu, kommt man ich nicht umhin, ein wenig angenehme Gänsehaut im Nacken zu verspüren. Die direkt darunter gesetzte „Hängepflanze“ mildert diesen Eindruck nicht unbedingt, da sich die langen Stahldrähte wie Beine um den Sockel schlingen.

Der Schwerkraft zum Trotz

Welchen Naturgesetzen Manuela Tirlers luftig in die Höhe steigenden „Weed-Stacks“, frei übersetzt: „Unkraut-Haufen“, tatsächlich folgen, mag mit bekannter Physik kaum erklärbar sein. Schwerkraft scheinen sie jedenfalls nicht zu kennen. In ihrem Höhenzug wirken sie aller Transparenz zum Trotz sogar enorm körperlich. Jede feine Verästelung verleiht den Plastiken Eleganz und Dynamik. Sie strahlen dementsprechend gleichwohl Ruhe und Bewegung aus – dabei bewegen sie sich tatsächlich. Denn schon eine leichte Berührung versetzt die filigranen Stahlkonstruktionen in Schwingung. Wie Momentaufnahmen scheinen die luftigen Geflechte im Raum zu schweben und vermitteln hierin eine Ästhetik, die Tirlers Arbeiten grundsätzlich innewohnt. 

Ausstellungsansicht "Schattengewächse", Galerie Ruppert, 2019. Foto: Galerie Ruppert.
Ausstellungsansicht „Schattengewächse“, Galerie Ruppert, 2019. Foto: Galerie Ruppert.

Ambivalente Organismen in unerforschten Lebensräumen

Es ist letztlich nie ganz klar, was hier wächst – aber etwas scheint zu wachsen. Ob gerade einmal 20 cm im Durchmesser oder bis über 2,5 m unter die Decke wachsen Manuela Tirlers „Schattengewächse“ in alle Dimensionen. Sie machen Galerieräume zu unerforschten Landschaften und beschlagnahmen sogar Gärten als ihren Lebensraum. Trotz aller „Pflanzlichkeit“ überwiegt in Tirlers Arbeiten die gezielte Mehrdeutigkeit in der Verbindung aus Material und Form. Dabei bestärkt sich der Eindruck des Surrealen auch gerade aus der Assoziation des Figürlichen. Materialstrenge und Farbpuristik verbinden sich mit organischer Anmut und erzeugen wiederum eine haptische wie optische Anziehungskraft. Dieses „Unkraut“ möchte man im Garten haben – und der Wohnung!

Die Ausstellung „Schattengewächse“ war vom 15. September bis 27. Oktober 2019 in der Galerie Ruppert zu sehen.