Leere wird mit Kreativität gefüllt – „Corona“ von Jürgen Klugmann im Tübinger Künstlerbund

Museen und Ausstellungshäuser umfängt aktuell – wie viele andere Gebäude – eine stille Leere. Der Zutritt bleibt den Interessierten verwehrt und das Virus bestimmt weiterhin auf unbestimmte Zeit unseren Alltag. Doch kann eine solche Leere auch Raum für Kreativität schenken?. Der Künstler Jürgen Klugmann nutzt den Leerstand im Künstlerbund Tübingen und präsentiert für eine Woche seine aktuelle Werkserie unter dem treffenden Titel „Corona“.

Eine Woche lang hieß es: Werft doch einen Blick durch die großen Fenster des Künstlerbundes Tübingen. Genau das haben wir, Elisabeth und Sarah, diese Woche gemacht. Da standen wir, aufgeregt und voller Vorfreude, dass wir endlich mal wieder Kunst im Ausstellungskontext erleben durften. Jürgen Klugmann hatte uns zu einer gemeinsamen Begehung eingeladen. Gebannt haben wir seine Werke beobachtet und uns lange mit dem Tübinger Künstler unterhalten. 

Ein Text von Elisabeth Weiß und Sarah Hergöth.

Schwebende Kugelschreiber

Kugelschreiber tanzen automatisch angetrieben über einer am Boden liegenden Leinwand. Gebündelt und an einem Draht befestigt, werden sie von den Umdrehungen eines Akkuschraubers bewegt. Dieser hängt, befestigt an einem Seil, an einer Holzkonstruktion. Zwischen Bohrer und Zeicheninstrument dient der stabile Draht als Verbindungsglied. Fast meditativ  versunken stehen wir als Betrachter*innen der Konstruktion gegenüber, beobachten gebannt den Tanz der Kugelschreiber. Was wird passieren? Welche Spuren werden die Stifte-Bündel wohl auf den nächsten paar Zentimetern hinterlassen? Die Kugelschreiber ziehen ihre Kreise, bewegen sich gleich und doch nicht identisch. Je nach Länge der Schnur, an dem der Akkuschrauber angebracht ist, und je nach eingestellter Geschwindigkeit des Geräts, entstehen unterschiedlich dicht beieinanderliegende Striche auf dem Malgrund. Nach und nach formen sie sich zu deutlichen Spuren, zu Kreisen, deren Durchmesser immer größer werden.

Einfach mal beobachten. Ist es nicht spannend, was nach und nach entsteht? © Jürgen Klugmann.
Video: Sarah Hergöth und Elisabeth Weiß.

Der Künstler

Jürgen Klugmann wohnt nun seit fast dreißig Jahren in Tübingen, lebt und arbeitet im Französischen Viertel und bildet damit gemeinsam mit Frido Hohberger und vielen anderen die dortige Künstler*innenszene. Er lernte am Zeicheninstitut bei Prof. Martin Schmid und Dieter Löchle. Aufenthalte, Symposien und Stipendien in Russland, New York, Frankreich, Tschechien, Ungarn, Österreich und Italien ließen den Künstler ortsspezifische kulturelle Gegebenheiten kennenlernen. Dies trug zur Entwicklung seiner künstlerischen Formensprache bei. Heute ist Klugmann im Vorstand des Künstlerbundes Tübingen, unterrichtet Kunst am Gymnasium und gibt Zeichenkurse an verschiedenen Akademien, wie der „Fabrik am See“ am Bodensee und dem Leibniz-Kolleg

Die Freude am Experimentieren

Eine experimentelle Arbeitsweise durchzieht das Œuvre Klugmanns. Er arbeitet unter anderem mit gefundenen Fotografien. Für seine Serie „The Forgotten” löst er einzelne Porträts aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus und bearbeitet sie mit Farbe. Aus einer Aufnahme, auf der ursprünglich mehrere Personen abgebildet waren, entstehen so intime Einzelporträts. Der künstlerische Prozess setzt bereits im Akt des Findens ein . Die vorgefundenen Fotografien werden bearbeitet und mit den Mitteln der Malerei auf eine neue Bedeutungsebene gesetzt. Konzeptuelle Ansätze sind auch in anderen Werken des Künstlers zu finden.

Automatismus und Künstlerhand

Über das Experimentieren kam Jürgen Klugmann auch zur Realisierung seines aktuellen Projekts. Zusätzlich spielte der Zufall eine essentielle Rolle, denn um einen Leerstand in den Räumlichkeiten des Künstlerbundes zu vermeiden, brauchte es eine Idee, die sich schnell umsetzen lassen konnte. 

Die kreative Arbeit des Künstlers beginnt handwerklich in der Konstruktion einer Apparatur, die einen fast autarken Zeichenprozess zulässt. So haben sich Holzlatten, Seile, Schnüre, Klebeband, Draht, ein Akku-Bohrschrauber und Kugelschreiber durch die Überlegungen Klugmanns und reines Ausprobieren zu einzigartigen Konstruktionen zusammengefunden. In einem endgültigen Handeln, im Akt der Ausführung/ des Zeichnens, wirken sie selbstständig, dennoch bedürfen sie vor Beginn des Zeichnens menschlicher Handlungen – sei es um den Akku des Bohr-Schraubers einzulegen oder um einen leeren Kugelschreiber auszuwechseln.

Nicht unbedingt leise, dafür umso faszinierender.
Bei längerer Beobachtung glaubt man fast einem meditativen Zustand zu verfallen. © Jürgen Klugmann.
Video: Sarah Hergöth und Elisabeth Weiß.

Der Abstand der Zeicheninstrumente zum Maluntergrund sowie die Anzahl der Kugelschreiber und deren Farben können vom Künstler bestimmt werden. Durch die Einstellung der Geschwindigkeit des Akku-Bohrers lassen sich die Eigenschaften der Linie steuern. Sind diese Weichen festgelegt, überlässt Klugmann dem automatischen Ablauf das Feld. Der Akkuschrauber dreht seine Runden, bis sich die Schnur so weit aufgewickelt hat, dass die Stifte ihre Bodenhaftung verlieren. Dann erfolgt ein Überraschungsmoment: durch die Fliegkraft drehen sich die Kugelschreiber für eine gewisse Zeit in die andere Richtung.

Was also im ersten Moment wie eine autark gestaltende Maschine wirkt, offenbart bei genauerem Hinsehen künstlerische Überlegungen, die vorbereitende Handlungen des Künstlers mit einschließen und nur dadurch ihr Ergebnis erzielen, mit zugegebenermaßen, an manchen Stellen unvorhersehbaren Effekten. Bricht zum Beispiel eine Miene ab, hinterlässt dies eine unverwechselbare, wie auch äußerst faszinierende Spur.

„Der wirkliche Ablauf des Denkens“

(Scheinbar) automatische Abläufe im künstlerischen Prozess sind im kunsthistorischen Diskurs fest verankert. Bereits die Surrealisten, um André Breton, nutzten das Verfahren der sogenannten écriture automatique (dt. automatisches Schreiben), um die Vernunft aus dem kreativen Tun auszuklammern. Dieser Gedanke wurde von zahlreichen Künstler*innen weiterentwickelt, darunter auch von Jackson Pollock mit seinen Drip Paintings. Selten bleibt dabei jedoch die gesamte Vernunft außen vor. Einige Steuerungen lassen sich nicht gänzlich abschalten. Aber vielleicht ist gerade das der Duktus des Künstlers, der so unverkennbar als Handschrift bestehen bleibt. Jürgen Klugmanns Serie „Corona“ ist ein spielerischer Dialog zwischen künstlerischer Intention und maschineller, automatischer Zufälligkeit. Das Ergebnis ist deshalb umso spannender, denn niemand kann vorhersehen, wie lange der Akku des Werkzeugs hält,ob ein Kugelschreiber ausfällt oder dessen Mine zerbricht. 

Eine Woche lang Kunst

Die experimentelle Serie „Corona” von Jürgen Klugmann war vom 13. bis 20. Februar 2021 im Künstlerbund Tübingen zu sehen. Zwar konnten auch hier die Räumlichkeiten nicht von der Öffentlichkeit besucht werden, aber durch die Größe der Kunstwerke konnten Interessierte dem (halb)automatischen Tun auch von außen zuschauen.