Steffen Osvath – Fotodelere des Grauens

Erinnerungen an unsere Ahnen, Assoziationen mit den Kriegen Anfang des 20. Jahrhunderts oder Gedanken an die mystische Welt der Geister und Träume, die um 1900 sehr populär war. Obwohl diese Bezüge meist negativ behaftet sind, geht eine gewisse Faszination von ihnen aus. Ähnlich ergeht es uns bei den Werken von Steffen Osvath, denn er nimmt solche Fotografien als Quelle der Inspiration und als Grundlage seiner Fotoarbeiten.

Was bedeutet Grausamkeit? Was bedeutet Grausamkeit für jede*n Einzelne*n? Beeinflusst von Erinnerungen, den aktuellen Nachrichten und persönlichen Erfahrungen empfindet jede*r den Schrecken und das Grausame auf individuelle Art und Weise. Bei den Meisten von uns lösen beispielsweise alte Fotografien, schwarz-weiß oder farbig, ein unbehagliches Gefühl aus. Seien es Erinnerungen an unsere Ahnen, Assoziationen mit den Kriegen Anfang des 20. Jahrhunderts oder Gedanken an die mystische Welt der Geister und Träume, die um 1900 sehr populär war. Obwohl diese Bezüge meist negativ behaftet sind, geht eine gewisse Faszination von ihnen aus. Ähnlich ergeht es uns bei den Werken von Steffen Osvath, denn er nimmt solche Fotografien als Quelle der Inspiration und als Grundlage seiner Fotoarbeiten.

Fotodelere

Der Künstler findet seine fotografischen Leinwände an den unterschiedlichsten Orten. Was sie allerdings alle gemeinsam haben, ist, dass sie weggeworfen, entsorgt oder verloren gegangen sind. Wie kommt es dazu? Fotografien geliebter Familienmitglieder finden auf verschiedenste Arten den Weg auf eine Müllhalde, den Sperrmüll oder den Flohmarkt. Dieser Weg beinhaltet immer eine Geschichte. Familienzwiste, Haushaltsauflösungen aufgrund eines Todesfalls oder bedrückende Schicksale können der Grund für den ungewöhnlichen Fundort der Fotografien sein. Losgelöst von den ursprünglichen Bezugspersonen haben sie jedoch eine Historie inne und übertragen sie in einem neuen Bedeutungszusammenhang auf den Künstler, die Menschen im Kunstbetrieb und den*die Betrachter*in. Diese reflektieren, übertragen ihre eigenen Erinnerungen auf das Werk oder entwickeln Gedanken darüber, was die Geschichte des Abgebildeten sein mag. 

Fotoarchäologe

Osvath selbst sieht sich bei der Suche nach diesen privaten Fotografien als Fotoarchäologe, nicht als Künstler. Ähnlich den Wissenschaftler*innen birgt er Schätze aus dem Staub der Vergangenheit, der unachtsamen Vernachlässigung und längst vergessenen Zeiten. Auf der Basis dieser Tätigkeit des Suchens und Findens entstand eine Sammlung von ca. 40.000 Fototrägern, die von nicht entwickelten Filmdosen bis hin zu Farbabzügen reichen. Der künstlerische Akt, dem er die Fundstücke unterzieht, geschieht erst danach. Osvath löst die Motive der Fotografien durch Übermalung, Abschaben oder Kombination mehrerer Fotografien aus ihrem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang. So hat der*die Betrachter*in mehr Freiraum in der Interpretation der Motive und der Projektion eigener Erinnerungen oder Emotionen auf das Abgebildete. Zu diesem Zeitpunkt bezeichnet Osvath die Werke als Fotodeleren. Dieser Begriff setzt sich aus dem Wort Foto und dem lateinischen Begriff delere  zusammen, was soviel bedeutet, wie zerstören oder tilgen. Erst das Bearbeiten der Fotografien definiert sie also als Kunstwerk. Zuvor befinden sie sich, obwohl es sich um anonyme Motive handelt, in einem privaten Moment, denn der Transformationsprozess hat noch nicht stattgefunden. 

Galerie

Des Öfteren haben wir den Künstler in der Galerie Hausgeburt am Stuttgarter Nordbahnhof besucht. Das Haus an den Schienen beherbergt Ateliers und Wohnräume von Stuttgarter Künstler*innen. Die Galerie selbst befindet sich im Keller des Gebäudes. Eine schmale Treppe verschafft uns Zutritt zu verwinkelten Gängen, Räumen, offen liegenden Kabeln und der Kunst. Dort begegnen wir entstellten Gesichtern, wie auch humorvollen Übermalungen, die uns in der bizarren Umgebung sogar zum Lachen bringen. 

Vor dem alten Haus steht ein Wohnwagen. Es brennt Licht und die Türe ist offen, wir treten ein und befinden uns in einer weiteren Galerie. Eine Bar auf der einen Seite beherbergt Schnaps aus aller Herren Länder, ein kleiner Tisch und Bänke laden zum Niederlassen ein. Die Wände sind behängt mit kleinformatiger Kunst, sodass es kaum auffällt, dass die Räumlichkeiten begrenzt sind und wir uns eigentlich in einer Galerie in einem Wohnwagen befinden: Microssage, die Galerie auf Rädern.  

Verbrennung

Es ist ein lauer Abend, an dem ein Lagerfeuer als einfallsreiche Idee erscheint. Doch es handelt sich hier nicht um den Mittelpunkt eines geselligen Zusammenseins, das im dunkeln Licht und Wärme ausstrahlt. Es handelt sich um eine Verbrennung. Eine Verbrennung von Osvaths Kunstwerken und diversen Gegenständen, die ihren Zweck bereits erfüllt haben. Ein Holzstuhl brennt lichterloh. Eine Grabkerze schmilzt im Feuer. Ein fremdes Gesicht blickt uns, umgeben von einem alten Bilderrahmen, aus den Flammen heraus an. Es fängt an zu brennen. Die Gesichtszüge verzerren sich. Die Flammen brechen durch den Bildträger. Es wird Teil des großen Aschehaufens, der als Relikt noch am Tag danach von der Verbrennung zeugt. Zeit und  Vergänglichkeit, der wir alle unterliegen, ist in jedem Moment präsent. Die Gedanken, die wir uns machen, während wir die lodernden Flammen betrachten, spinnen weiter, was die Kunst von Steffen Osvath aufzeigt. Alles verändert sich. Das Leben, die Menschen, jeder Gegenstand und die Kunst. 

Künstler

Neben anderen künstlerischen Tätigkeiten, wie die Gestaltung und Konzeption von Ausstellungen und die Produktion von Ausstellungselementen, steht Osvaths Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie im Mittelpunkt seiner Arbeit. Ob im Rahmen einer raumfüllenden Installation, in der die Fotografien einen Sarg füllen, bis hin zu alleinstehenden Wandarbeiten, nutzt er die bildgewordenen Erinnerungen anonymer Protagonist*innen als Projektionsfläche. Aufgeladen mit den Assoziationen der Betrachter*innen erfüllen sie den Ausstellungsraum mit Unbehagen. Unbehagen in Bezug auf das verfremdet Dargestellte, auf die eigenen Erinnerungen und Gedanken, aber auch auf die direkte Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit. Das Motiv der Fotografie wird so zur Blaupause unseres Selbst, denn die Werke von Steffen Osvath werfen den Blick auf uns zurück und lassen so neue Welten entstehen. 

Auch performative Aktionen, wie das Verbrennen der eigenen Kunst, greifen diesen Gedanken auf und transportieren ihn noch unmittelbarer in unsere Realität. Selbst die Galerie befindet sich nicht auf festem Boden, denn die Räder des Wohnwagens verändern permanent das Umfeld, den Raum, die Realität, in der er sich befindet. 

Alles ist wandelbar und verändert sich mit oder ohne unser Zutun. Es liegt also an uns, ob wir in diesen fortschreitenden Prozess eingreifen wollen oder als außenstehende*r Beobachter*in agieren.

Noch bis 30.08.2020 kann die Ausstellung Out of the Dark in der Galerie Stadt Sindelfingen mit Werken von Steffen Osvath besucht werden. Die Galerie hat Montag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr und am Wochenende von 10 bis 17 Uhr geöffnet.