Gude Schaal in der Galerie Reinhold Maas

Gude Schaal lebte fast 70 Jahre in Reutlingen. Mit ihrer Malerei knüpfte die gebürtige Hamburgerin in den 1970er Jahren an die Tradition der deutschen Expressionisten an, wobei sie insbesondere Emil Noldes Umgang mit Farbe als primäres Ausdrucksmittel inspirierte. Ihre Malereien menschenleerer Orte und maskenhafter Menschenbilder kennzeichnet eine damals wie heute markante und gänzlich eigenständige Bildsprache.

„Von allen Tätigkeiten ist künstlerisches Tun das subjektivste und objektivste zugleich“. So beschreibt Gude Schaal schon 1960 in ihrem Tagebuch einen wesentlichen Widerspruch ihrer künftigen Malerei. Denn ihre Bilder sind hochgradig biographisch und gleichzeitig völlig eigenständige ästhetische Objekte.

Im selben Jahr begann sie erstmals und fast vollkommen autodidaktisch mit Ölfarbe zu arbeiten, worin bis zu ihrem Tod im Dezember 2011 knapp 900 Gemälde entstanden. Etwa ein Sechzigstel davon ist in dieser Ausstellung zu sehen. Dennoch lassen sich Gude Schaals Bildmotive recht schnell erfassen: der Mensch und sein Umfeld, Meer und Landschaft.

Anlässe für Farben

Bei näherem Hinschauen wird aber immer klarer, dass es hier nicht primär um das Dargestellte geht. Es sind keine Abbilder, sondern vielmehr „Anlässe für Farben“, wie Schaal selbst einmal sagte. Dabei malte sie nie direkt von der Natur. Alle Malereien entstanden nach Skizzen aus ihrer Erinnerung – sogar die Werkgruppe der Portraits. Schaals Bilder sind somit zwar gegenständlich, aber nicht nach dem Gegenstand gearbeitet, wodurch wiederum eine ganz eigene und parallele Realität sichtbar wird.

Meist menschenleere Orte vermitteln ein Gefühl grundsätzlicher Melancholie, die gleichzeitig auch eine gewisse Fremdheit in sich trägt. Sogar ihre Portraits und Menschenbilder scheinen häufig maskenhaft.

Farbe und Pinselduktus sind wesentliche Stimmungsträger, worin Schaal wiederum instinktiv an die Traditionen expressionistischer Malerei anknüpfte. Nach eigener Aussage wurde sie in den 1950er Jahren tatsächlich von der Malerei Emil Noldes zu einem künstlerischen Neuanfang inspiriert – Nolde war schließlich, wie sie selbst, ein „Nordlicht“.

Landschaft als Erinnerungsort

1915 wurde sie als Gudrun Dölker in Hamburg geboren und die nordische Landschaft zum zentralen Erinnerungsort. Als junges Mädchen musste sie diese Heimat durch den Umzug der Familie nach Stuttgart zurücklassen und kam als exotische Hamburgerin hier nie so richtig an. Schon wegen des schwäbischen Dialekts fühlte sie sich als Fremde.

Gudrun, genannt Gude kehrte schließlich in den 1930er Jahren nach Hamburg zurück, um ihr Kunststudium dort zu beginnen. Die ursprüngliche Sehnsucht nach der Heimat hat sie jedoch ein Leben lang in sich getragen – selbst noch als sie fast 70 Jahre in Reutlingen lebte und in über 60 Ausstellungen vertreten war.

Saisonende am Strand, 1996, Öl auf Hartfaser, 70 x 50 cm

Ihr Studium führte sie über München nach Leipzig, wo sie es als Meisterschülerin des Buchkünstlers und Illustrators Walter Tiemann beendete. Die Präsenz der Linie scheint dabei sogar in ihren späteren Ölbildern noch sichtbar. Ob Landschaft, Interieur oder Portrait, Schaals Formensprache zeigt sich beinahe zeichenhaft. Besonders die meist dunklen Umrisslinien stechen hierbei hervor. In gewisser Weise zeichnet Schaal also malerisch – und malt wiederum zeichnerisch.

Zeichen und Geschichten

Grundsätzlich war die Literatur ein früher und beständiger Teil Schaals künstlerischen Lebens. Nach ihrem Studium begann sie zunächst für zwei Jahre als Illustratorin von Märchenbüchern zu arbeiten. Wie ihre Mutter, die selbst Schriftstellerin war, sei auch Gude schon immer eine Erzählerin gewesen – und das in Wort und Bild.

1942 heiratete sie schließlich ein Reutlinger Urgestein, den Textilkaufmann Eugen Schaal und siedelte in den noch immer befremdlichen Süden. Erst 15 Jahre später sollte sie an ihren künstlerischen Lebensweg erneut anknüpfen, in gänzlich gewandelter Form.

v. l.: Prellbock, 1989 / Saisonene am Strand, 1996 / Ein Brief, 1989 / Frau mit Hut, 1990 (Foto: Reinhold Maas)

Eigentlich in der Illustration beheimatet, wird doch die Farbe zunehmend zum stärksten Ausdrucksmittel. Trotz ihrer sehr breiten Farbpalette entstanden aber keine „lauten“ oder bunten Bilder. Im Gegenteil, mit nur einem kurzen Blick durch die Ausstellung wird bereits deutlich, dass allen Arbeiten ein individuelles Gespür für Farbbeziehungen und Farbstimmungen zugrunde liegt.

Dunkelheit als stetiger Begleiter

Ironischerweise nimmt gerade die Farbe Grau hier einen besonderen Stellenwert ein. Es ist Teil fast aller Bilder und doch wirken sie nie im klassischen Sinne grau. Denn Schaals Grau ist immer farbig und steht dabei in enger Verbindung zu Licht und Schatten.

Prellbock (Detail), 1989, Öl auf Hartfaser, 77 x 55 cm

Häufig sind es ganz bewusste Hell-Dunkel-Kontraste, die eine fast magnetische Anziehungskraft erzeugen. Der auffällig weiße „Prellbock“ (1989) sitzt nun beispielsweise genau auf einer tiefschwarzen Horizontlinie – unmittelbar in der Berührungszone von Himmel zu Erde. Er sticht zwar deutlich aus der Dunkelheit hervor, doch betont sie darin gleichzeitig.

Tatsächlich grundierte Schaal fast alle ihre Arbeiten in dunklen Tönen. Die Helligkeit liegt also buchstäblich über der Dunkelheit und zeigt so, dass sie lediglich Übergänge Desselben und keine separaten Zustände sind. Auch den Tod sah Gude Schaal als Übergang, weshalb ihre bildliche Schwermut wohl meist von einem Gefühl der Hoffnung begleitet scheint. Licht und Schatten, Himmel und Erde können somit auch als Symbole verstanden werden. 

Alles bleibt sichtbar

Etwas Fließendes stellt sich ein, formal und inhaltlich. Gude Schaal malte schnell. Sie wollte die Bilder in ihrem Kopf loswerden, ihre Erinnerungen vielleicht auch endlich sehen können. Beim Malen verwendetet sie keine Staffelei, sondern legte ihre Hartfaserplatten flach auf einen Tisch und drehte diese dann entsprechend, anstatt um den Tisch herumzulaufen. Die Bilder standen währenddessen also auch einfach mal auf dem Kopf. In technischen Details wie diesen wird nun umso deutlicher, wie wenig sich der Malprozess tatsächlich am eigentlichen Gegenstand orientierte.

Der Malvorgang ist es nun auch, der sich in allen Werken Schaals erhält. Farbübergänge werden nie fein ausgestaltet oder Umrisslinien verschleiert. Alles bleibt sichtbar und darin wiederum authentisch. Aus diesem Grund mag sich ebenso ein Gefühl von Ernsthaftigkeit einstellen.

Schwankende Stühle und surreale Welten

Licht- und Schattenspiele schaffen Einblicke in beinahe bühnenhafte Landschaften und Interieurs. Nur als Vergangenheit scheint der Mensch hier noch zu existieren: Gebäude wirken instabil, Menschen werden zu Gliederpuppen zerlegt und sogar Stühle schwanken irgendwie. Für die Diagonale hatte Schaal nun mal eine besondere Schwäche: sie bringt aus dem Gleichgewicht, behauptet sich und schafft womöglich sogar Unbehagen. Diese Bilder wollen eben nicht gefallen oder sind zumindest nicht auf den ersten Blick gefällig. Vielmehr tragen sie eine „strenge Schönheit“ (Hansdieter Werner) in sich und schüren Neugierde vor diesen unbekannten und surrealen Welten.

Auch für die Dunkelheit hatte Gude Schaal eine Schwäche und das nicht nur in ihren Bildern. Tragische Theaterstücke waren ihr die liebsten, denn Happy-Ends fand sie kitschig. So ist es nicht verwunderlich, dass man immer wieder auch eine subtile, häufig melancholische Bildironie zu spüren scheint.

Humor und Widerspruch

In ihrem verhältnismäßig großen Werk „Durchblick zur See“ (1985) versperren nun monumentale Strandpfähle die Sicht. Auf der gesamten Fläche bleibt lediglich ein kleiner Spalt, um die dahinterliegende Sonne am Horizont erahnen zu können. Größe und Titel stehen so gänzlich im Widerspruch zur bildlichen Erfahrung.

Durchblick zur See, 1985, Öl auf Hartfaser, 81 x 81 cm

Das Widersprüchliche scheint es nun auch zu sein, was uns in Schaals Arbeiten stetig begleitet. Gerade in Kombination mit den Bildtiteln verstärkt sich darüber hinaus der Eindruck einer gewissen Verschmitztheit.

Schon in frühen Werken wie der „Gesperrten Fahrbahn“ von 1979 verbindet sich ein Sinn für Farbe mit raffiniertem Humor. Zuerst mag die unübliche pastellartige Farbigkeit hervorstechen, wobei im nächsten Moment ein leichtes Schmunzeln auftreten könnte.

Gesperrte Fahrbahn (Detail), 1979, Öl auf Hartfaser, 50 x 40 cm

Ein rot-weißes Absperrzeichen zieht den Blick unweigerlich auf sich, wie es auch seine Funktion im Straßenverkehr sein sollte. Warum es dort steht, bleibt aber ein Rätsel, denn notwendigerweise abzusperren gibt es offenbar nichts. Dafür sprechen auch die erkennbaren Reifenspuren. Sie folgen anfänglich zwar noch anständig dem weisenden Straßenschild, führen aber unmittelbar danach wieder zurück auf die offiziell „gesperrte Spur“. Frech und originell erzählt Schaal hier mit nur wenigen Bildmitteln eine ganze Geschichte.

Erinnerungsmenschen

Im grundsätzlichen Hang zum Wesentlichen scheinen sich alle Malereien zu verbinden, so auch besonders die große Gruppe der Portraits. Das frühe Selbstbildnis von Gude Schaal „Mädchenkopf II“ (1977) kann dabei gewissermaßen als Modell für ihren künftigen Portraitstil gesehen werden.

Unter dem strengen 20er-Jahre-Rundschnitt schaut uns die Malerin direkt an, so scheint es zumindest vorerst. Im nächsten Moment wirkt ihr Blick beinahe, als würde sie durch uns hindurchschauen – und doch ist er in seiner Einfachheit enorm eindringlich. Licht und Schatten umspielen ihre Gesichtszüge, schaffen Räumlichkeit und Dynamik in dem sonst regungslosen Ausdruck. Der Kopf selbst ist wiederum durch eine zarte schwarze Linie fast zeichnerisch von dem neutralen Hintergrund abgesetzt.

Mädchenkopf II, 1977, Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm

Nur aus der Erinnerung entstehen Schaals Menschenbilder – wie der Begriff also schon vorauslegt, von innen. Ihr ging es nun auch hier nicht um ein getreues Abbild, sondern darum, einen Ausdruck zu konzentrieren. Bei Auftragsportraits fragte sie daher anscheinend gerne: „Soll es ähnlich sein, oder darf es ein gutes Bild werden?“

Gesicht oder Maske

Häufig tragen Schaals Gesichter maskenhafte Züge, wirken überlängt und zum Teil bizarr. Markant geschnittene Nasenpartien und große, mandelförmige Augen dominieren dabei viele Bilder. Schon früh zieht Schaal auch eine direkte Verbindung von Gesicht und Maske, die im Werk „Karneval“ von 1970 erneut mit einem unterschwelligen Bildwitz verbunden ist.

Zwei schmale Frauenfiguren sitzen hier auf einem Sofa. Sie scheinen zu warten, vielleicht auch zu beobachten. Eine ausgelassene Karnevalsstimmung herrscht zumindest nicht. Um ihre Köpfe herum hängen nun in regelmäßigen Abständen Masken von der Decke, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Ausdruck der beiden Frauen aufweisen. Die Frage drängt sich auf: Was kam nun zuerst, Mensch oder Maske?

Den zugrunde liegenden Widerspruch von Mensch und Abbild spricht Schaal im selben Jahr mit dem Werk „Zerbrochener Spiegel“ (1970) auf gleichermaßen feinsinnige wie unmissverständliche Weise an. Kurz zuvor muss er den Spiegel zerschlagen haben, in welchem der Mann seine zersplitterte Reflektion begutachtet. Die großen Augen schauen uns „verrückt“ entgegen und spiegeln dabei wiederum Einseitigkeit und Grenzen jedes Abbildversuchs.

Anmut und geheime Trauer

So auffällig die Augen häufig sein mögen, begann Gude Schaal doch tatsächlich bei den Mündern – was in „Frau mit Hut“ (1990) wohl besonders deutlich wird, denn hier sind die Augen geschlossen und verschwinden beinahe gänzlich im Schatten ihres Hutes. Die feuerroten Haare und zarten rosa Lippen sind jedoch so eindrücklich, dass ihre Augenpartie gar nicht wirklich zu fehlen scheint.

Frau mit Hut (Detail), 1990, Öl auf Hartfaser, 66 x 55 cm

Schaals Menschen verbindet ein Gefühl geheimer Trauer und dennoch treten sie keineswegs eingeschüchtert auf. Vielmehr strahlen sie in ihrer Fremdheit eine versöhnte Haltung aus. Sie alle sind in gewisser Weise Selbstportraits von Gude Schaal.

Denn ein Leben lang sehnte sie sich nach ihrer Heimat im Norden. Gleichzeitig war sie in der Reutlinger Künstlergemeinschaft tief verwurzelt. Sie war Mitglied in der GEDOK, im Malerkollegium Reutlingen und in der Hans-Thoma-Gesellschaft (heute Kunstverein Reutlingen), wo sie 1970 ihre erste Ausstellung bekam. Es folgten über 60 weitere in Reutlingen und Umgebung, wodurch Schaal das kulturelle Erleben über Jahrzehnte gestaltete, formte und förderte.

Ausstellungsansicht Galerie Reinhold Maas

Heute sind ihre Werke in zahlreichen privaten, städtischen und staatlichen Sammlungen zu finden, wie beispielsweise dem Regierungspräsidium Tübingen oder dem Landratsamt Reutlingen.

Mit der Galerie Reinhold Maas hat nun auch Gude Schaals Nachlass seinen Ort in Reutlingen gefunden. Diese erste Ausstellung ist damit ein ganz besonderer Auftakt, Reutlinger Kunstgeschichte unmittelbar erfahrbar zu machen und zu halten.