KUNST REUTLINGEN – VOLUME I

KUNST REUTLINGEN 2020 – eine Ausstellung im Kunstverein Reutlingen, die einen Einblick in das aktuelle regionale Kunstgeschehen präsentiert. 50 Künstler*innen und ihre Werke. Heute stellen wir euch Arbeiten von elf Teilnehmer*innen vor.

Unzählige Exponate von 165 Künstler*innen wurden Anfang des Jahres durch die Eingangstore der Wandel-Hallen in der Eberhardstraße 4 in Reutlingen getragen. Werke von Künstler*innen aus der Region. Denn die nächste Ausgabe der traditionsreichen Ausstellung KUNST REUTLINGEN stand bevor – seit Jahren eine Gemeinschaftsinitiative des Kunstvereins Reutlingen und des Kunstmuseums Reutlingen. Etwa alle zwei Jahre haben regionale Künstler*innen die Möglichkeit Arbeiten einzureichen. Durch eine fachkundige und wechselnd besetzte Jury, bestehend aus Künstler*innen, Kunstkritiker*innen und Kurator*innen, werden die auszustellenden Werke ausgewählt. 

Der Jury standen dieses Jahr Amber Sayah, freie Kulturjournalistin und -kritikerin aus Stuttgart, Madeleine Frey, Leiterin der Galerie Stadt Sindelfingen, Constanze Vogt, aktuelle HAP-Grieshaber-Stipendiatin, Imke Kannegießer, Geschäftsführerin des Kunstvereins Reutlingen und Dr. Ralf Gottschlich, Leiter Kunstsammlung Reutlingen, vor. Nach intensiver Sichtung aller Exponate standen die Teilnehmer*innen von KUNST REUTLINGEN 2020 fest.

Malerei, Zeichnung, Druckgrafik, Fotografie, Plastik oder Skulptur – es werden Werke von 50 Künstler*innen, die von Imke Kannegießer und Dr. Ralf Gottschlich ab 1. März ursprünglich in zwei Etagen der Wandel-Hallen, im Kunstverein Reutlingen und im Kunstmuseum Reutlingen | Galerie präsentiert wurden, gezeigt. Nur wenige Tage war die Ausstellung für die Öffentlichkeit zugänglich, denn dann kam es zum Lockdown. Wochen der Stille. 

Seit Mitte Mai sind die Wandel-Hallen nun endlich wieder geöffnet. Also: Maske auf, Abstandsregeln einhalten, Hände desinfizieren und schon kann es losgehen im ersten Obergeschoß. Denn seit der Wiedereröffnung ist die Ausstellung KUNST REUTLINGEN 2020 bis zum 16. August ausschließlich im Kunstverein Reutlingen zu sehen und zwar in zwei Teilen. Bald wird umgehängt. Umso mehr freuen wir uns, dass wir euch hier auf unserem Blog einen kleinen Einblick in die 80 Arbeiten der 39 Künstlerinnen und 11 Künstler schenken können. Und wenn ihr euch beeilt, dann könnt ihr noch bis zum 28. Juni Teil 1 der wunderbaren Ausstellung live besichtigen. 

Nun wünschen wir euch viel Freude mit den Werken der ersten elf Künstler*innen. Auch wir mussten aufteilen und präsentieren euch KUNST REUTLINGEN 2020 in vier Teilen.

Petra Blum-Jelinek – Spannungen.

Petra Blum-Jelinek. Spannungen. 2019, Collage, Mischtechnik auf Papier. © Petra Blum-Jelinek, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Farbintensiv und aufgeladen ist das Kunstwerk Spannungen. Form über Form, Farbfläche über Farbfläche, Ebene über Ebene scheinen sich in dem Werk der Künstlerin Petra Blum-Jelinek aufeinander zu schichten. Zu spüren ist ein Kampf. Ein Kampf um die Verortung im Bildraum. Spürbar sind Spannungen. Spannungen zwischen den einzelnen Farbflächen. Sie stehen in Beziehung, wirken bewegt, dennoch fest verankert in der Struktur des Quadrats. Sie tragen ihre ganz eigenen Spuren, die durch die Verwendung verschiedener Materialien und Techniken entstanden sind. So werden sie zu ganz individuellen Teilnehmern im Bildgeschehen und erzählen ihre ganz persönliche Vorgeschichte. Individuen, die zu einem gemeinsamen Ganzen verschmelzen.

Annika Bolsinger-Rösch ­– Kleidkörper.

Er hängt von der Decke, der Kleidkörper der Künstlerin Annika Bolsinger-Rösch. Wie präsentiert er sich? Wie präsentiere ich mich? Das Werk steht jede*m Besucher*in auf Augenhöhe gegenüber. So ergibt sich ein Zwiegespräch, Fragen über Fragen häufen sich. Wer steht einem gegenüber? Mann, Frau, divers? Spielt es überhaupt eine Rolle auf eben diese Frage eine Antwort zu erhalten? Zart und in sich gekehrt wirkt Annika Bolsinger-Röschs Kleidkörper. Verwirrt? Auf der Suche? Doch nach was? Nach Zugehörigkeit, nach Gemeinschaft. Egal, wie man aussieht. Egal, wie man sich präsentiert… alles egal.

Tina Böhm – Synthesis II.

Tina Böhm. Synthesis II (Detail). 2019, experimenteller Holzschnitt. © Tina Böhm, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Sattes fließendes Grün trägt feine weiße und dunkelblaue Linien. Sie formen sich zu pflanzenähnlichen Strukturen, die nach und nach den Bildraum von unten und der Seite erobern. Synthesis II ist ein experimenteller Holzschnitt. Synthese, bekannt aus der Philosophie als die Vereinigung der These und Antithese, als Formung einer neuen Einheit. Ein Begriff, der ebenso aus der Naturwissenschaft bekannt ist, als Verfahren zur Herstellung eines neuen Stoffes aus verschiedenen Elementen.

Tina Böhm. Synthesis II. 2019, experimenteller Holzschnitt. © Tina Böhm, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Kultivierung, Wachstum – eine Vereinigung und Verschmelzung der Linien mit der Ebene, mit dem Hintergrund, dem Träger der Szenerie. Die Vereinigung der Individualität der Natur mit einer festen, vom Menschen indoktrinierten Struktur?

Martin Dolmetsch – Ohne Titel, Bild 2 und Ohne Titel, Bild 3.

Martin Dolmetsch. Ohne Titel, Bild 3 (Detail). 2019, Farbige Tuschen und Lacke hinter Glas.© Martin Dolmetsch, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Intensive und kräftige Farben ziehen einen in den Bann bei der Betrachtung der Arbeiten Ohne Titel, Bild 2 und Ohne Titel, Bild 3 von Martin Dolmetsch. Tusche und Lack auf Glas: Glasmalerei. Eine aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. bekannte Ausdrucksform, die vor allem in der Gotik ihren Höhepunkt hatte, in Vergessenheit geriet und im Historismus ein Revival erlebte. Und auch im Bauhaus gestaltete in der Werkstatt für Glasmalerei Josef Albers bis 1925 seine berühmten Glasarbeiten.

Martin Dolmetsch. Ohne Titel, Bild 2 (Detail). 2019, Farbige Tuschen und Lacke hinter Glas.© Martin Dolmetsch, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Das in der Regel durchsichtige Material bietet der Farbe die Möglichkeit ihre ganze Leuchtkraft  zu präsentieren. Und je nach Lichteinfall verändert sich, dank der Lichtbrechung, die Intensität. Es sind zwei Werke, die zum Beobachten und vor allem zum Bewegen einladen, die aus allen Richtungen betrachtet werden wollen. So findet jede*r Rezipient*in eine ganz eigene Erzählung in den Arbeiten von Martin Dolmetsch.

Sandra Dullenkopf – Die Rauchwolke.

Sandra Dullenkopf. Die Rauchwolke. 2019, Öl auf Leinwand. © Sandra Dullenkopf, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Rauchend sitzen zwei Figuren auf Stühlen. Zwei Frauen? Der Rauch verqualmt die Szene. Findet eine Konversation statt? Oder genießen die Damen eine Auszeit vom Alltag und den Moment des Rauchens, den Geschmack der Zigarette und der Shisha in ihrem Mund?

Sandra Dullenkopf legt den Fokus in ihrer expressiv farbigen Umsetzung auf eine alltägliche Szene. Dennoch ist der Einblick in diese so begrenzt, dass Rezipient*innen diese nicht verorten können. Die ganz individuelle Imagination ist gefragt. Dadurch entstehen eigene Lesarten. Handelt es sich um ein gesellschaftskritisches Werk? Welche Rolle spielt Rauchen in unserem Umfeld? Was halte ich persönlich davon? Sandra Dullenkopf regt so zum eigenen Reflektieren an.

David Gaiser – Serie ‚Box 100 70 45‘, 20190302.

David Gaiser. Serie ‚Box 100 70 45‘, 20190302. 2019, Fotografie, Colourprint 1/10. © David Gaiser, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Ebenen treffen aufeinander, stapeln sich, formieren sich zu größeren und lagern in ganz unterschiedlichen Bildebenen übereinander. So entsteht eine Raumtiefe, die dennoch nicht greifbar und für den Rezipient*in zu verorten ist. Unwirklich anmutende Gebilde, mit ganz unterschiedlich wirkender Oberflächenstruktur, hat David Gaiser zum Leben erweckt. Durch die Schichtung der Ebenen entsteht eine spürbare Dynamik innerhalb der Struktur. 

David Gaiser. Serie ‚Box 100 70 45‘, 20190302 (Detail). 2019, Fotografie, Colourprint 1/10. © David Gaiser, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Die ausgestellten Werke entstammen der Langzeitserie Box 100 70 45. Seit 2005 fotografiert und bearbeitet  David Gaiser eine Box. Der Name der Reihe leitet sich von den Maßen eben dieser in ihrem Ursprungszustand ab. Inszeniert wird sie auf immer unterschiedliche Art und Weise. So werden Räume geöffnet, verschlossen und neu gedacht.

David Gaiser. Serie ‚Box 100 70 45‘, 20190302 (Detail). 2019, Fotografie, Colourprint 1/10. © David Gaiser, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Durch das Fotografieren erhält der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle. Die Schnelligkeit beim Drücken des Auslösers steht im Kontrast zur Dauer der Langzeitserie. Ein wichtiger Anreiz ergibt sich für David Gaiser durch die Möglichkeiten der Bildbearbeitung. So erinnern die Ergebnisse in Teilen nur noch entfernt an das ursprüngliche Objekt.

Ingrid Edith Gebhardt – Spiel mit Linien oder Teamwork mit Wespen.

Ingrid Edith Gebhardt. Spiel mit Linien oder Teamwork mit Wespen. 2019, Wespennester, Naturcollage auf handgeschöpftem Papier. © Ingrid Edith Gebhardt, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Eine Hommage an die Wespe? Eine Hommage an die Natur? Ingrid Edith Gebhardt schenkt in ihrer Arbeit Spiel mit Linien oder Teamwork mit Wespen dem Insekt eine Bühne für den großen Auftritt. 

Ingrid Edith Gebhardt. Spiel mit Linien oder Teamwork mit Wespen (Detail). 2019, Wespennester, Naturcollage auf handgeschöpftem Papier. © Ingrid Edith Gebhardt, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Die Künstlerin bringt die Natur in den Ausstellungsraum. Sie verändert ihre ursprüngliche Struktur und ordnet sie in den neuen Kontext ein. Sie nimmt im ersten Moment Bezug zur klassischen Malerei, hängt ihr Werk in einem Bilderrahmen an die Wand. Doch der Schein trügt. In ihm befindet sich ein 3D-Gebilde, das so einen ganz eigenen Raum öffnet. Den Wohnort der Wespe? Sicherlich nicht, denn das eigentliche Zuhause des Insekts wurde völlig verformt, in eine neue Grundform gebracht. Wo kann die Wespe ihre Eier legen? Wo können die Larven gedeihen? Kein Wohnort, kein Zuhause. Eben eine Bühne für einen sporadischen Auftritt.

Dagmar Geiger ­– Halbes Leben auf Papier.

Alltagsmaterial und Dekontextualisierung. Zwei Begriffe, die bekannt sind aus der Konzeptkunst und der Minimal Art, die das Werk Halbes Leben auf Papier von Dagmar Geiger beherrschen. Konfetti, Abfallprodukt des Lochvorgangs, ist bekannt aus dem Büroalltag. Die Künstlerin entreißt dieses nun aber eben diesem Kontext und präsentiert es in einem ganz Neuen. Durch konsequente Wiederholung, dem simplen Nebeneinandersetzen der einzelnen Punkte durch Klebung auf einen Papieruntergrund, entstehen ganz individuelle Reihungen. Kein Wunder, denn das Konfetti entstammt unterschiedlichen Ganzen. Es reihen sich verschieden farbige Elemente, wodurch eine illusionistische Tiefenstruktur entsteht, die jede*n Betrachter*in anzieht. Bei genauerem Anblick lassen sich Zusammenschlüsse und Formen erkennen, die die strengen Grundstrukturen des Kreises und des Endprodukts Quadrat durchbrechen. Das Konfetti selbstist teilweise Träger von Buchstaben und schwarzen Linien. Träger einer ehemaligen Struktur, vielleicht eines Textes? Träger eines halben Lebens auf Papier?

Jochen Görlach – In Us We Trust.

Jochen Görlach. In Us We Trust. 2019, Öl und Pastell auf Leinwand. © Jochen Görlach, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Ein menschlicher Körper schwebt in einem nicht definierbaren Raum. Er hebt sich teilweise vom dunklen Hintergrund ab. Ein von oben kommender Lichtstrahl erfasst das Gesicht und den just von einem Oberteil befreiten Oberkörper. Die Brustwarzen streben nach oben, der Kopf ist sinnlich in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Ein intimer Moment, in den Jochen Görlach Einblick schenkt? Was fühlt die dargestellte Person? Welche Gedanken durchfließen sie?

Jochen Görlach. In Us We Trust (Detail). 2019, Öl und Pastell auf Leinwand. © Jochen Görlach, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Ein Spot, der nur für einen kurzen Augenblick angeschaltet wurde und jederzeit wieder erlöschen kann. Ein kurzer Moment der Beobachtung, den der Künstler den Rezipient*innen schenkt? Ein Blick in einen rätselhaften, undefinierten und uneinsichtigen Bildraum.

Gabriele Hasler – Es ist angerichtet.

Gabriele Hasler. Es ist angerichtet. 2020, Wandinstallation mit Graphit und Plastik. © Gabriele Hasler, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Direkt auf die Wand brachte Gabriele Hasler ihr Werk Es ist angerichtet. Ähnlich einem Graffiti, allerdings mit Graphit gezeichnet und zart in seiner Beschaffenheit, ziert es das Weiß im Kunstverein Reutlingen. Dreizehn Gedecke, Grau auf Weiß, bestehend aus Teller, Gabel und Messer, einem Glas und einem Brötchen, reihen sich nebeneinander. Dreizehn Plätze: Für die Familie? Für Freund*innen? Oder etwa ein Bezug zum Letzten Abendmahl?

Gabriele Hasler. Es ist angerichtet (Detail). 2020, Wandinstallation mit Graphit und Plastik. © Gabriele Hasler, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Es ist angerichtet… Doch was? Spiegeleier? Zumindest assoziiert man als Rezipient*in die dreizehn Gebilde, die sich von der Wand abheben, mit dem leckeren Frühstücksbestandteil. Einen Schritt näher, denn die Eier wollen genau betrachtet werden. Bei genauerem Hinsehen besteht das Spiegelei aus zwei unterschiedlich farbigen Nestern, einem größeren Weißen, in dessen Mitte ein Gelbliches thront. Aus angeschwemmten Plastikteilen formte die Künstlerin die so beliebte Nahrung. Plastik, das wir alle täglich benutzen, das wir täglich zu uns nehmen, ob wir möchten, oder nicht. Was will Gabriele Hasler all den Betrachter*innen mitteilen? Save our Planet? Beschützt das so fragile Ökosystem Meer? Eine umweltpolitische Arbeit.

Annette Hecht-Bauer – Löffelreigen.

Annette Hecht-Bauer. Löffelreigen. 2018/2019, Assemblage aus Malervlies. © Annette Hecht-Bauer, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Mit einer unglaublichen Leichtigkeit dominiert das Werk Löffelreigen den Raum. Von der Decke herab fließen tentakelartige Elemente gen Boden. Sie scheinen in Bewegung zu sein, obwohl dies ohne äußere Einwirkung eigentlich nicht möglich ist. Nur äußere Einflüsse könnten den einzelnen Armen die Kraft dazu verleihen. Ein Windstoß, ob durch das geöffnete Fenster oder verursacht durch Bewegungen der Besucher*innen, würde die zart wirkende Assemblage beleben. So erinnert Löffelreigen an ein Windspiel, das sanft durch einen Hauch Veränderung findet.

Andererseits wirkt die Arbeit mächtig. Sie dominiert den Raum und lädt zu einer genaueren Betrachtung ein. Das verarbeitet Material ist aus einem ganz anderen Kontext bekannt: Als Abdeck- und Schutzkörper, als Malervlies. Annette Hecht-Bauer dekontextualisiert. Sie schenkt dem Alltagsprodukt ein neues Leben, einen neuen prominenten Auftritt.