Wer sieht was? Blumenvase in einer Fensternische von Ambrosius Bosschaert d. Ä.

Stillleben funktionieren für viele Betrachter*innen erst einmal sehr einfach. Es gibt Objekte und Gegenstände zu sehen, die einem vertraut und selten abstrahiert dargestellt sind. Wie sehen sechs Kunsthistoriker*innen einen auf den ersten Blick simpel zusammengestellten Blumenstrauß in der Fensternische?

Wer hat es nicht zu Hause? Ab und an ein mit Wasser gefülltes Gefäß mit Schnittblumen, um sich die Natur in die Wohnräume zu holen. 

Ausgesucht wurde für die dritte Bildbesprechung dieses Mal ein vielleicht für manche Betrachter*innen auf den ersten Blick gar langweiliges und scheinbar uninteressantes Gemälde. Dabei funktionieren Stillleben für jede*n Betrachter*in erst einmal sehr einfach. So gut wie alles Sichtbare ist zuzuordnen, egal ob es sich um Blumen, eine Vase, Muscheln, Nahrungsmittel oder Gegenstände aus dem alltäglichen Gebrauch handelt. Hier sind es nun Blumen in einer Fensternische und eine Landschaft im Hintergrund. 

Das ungeschulte Auge will in einer Ausstellung womöglich weniger vor einem Stillleben innehalten, sondern zum nächsten figurativen oder abstrakten Gemälde wandern. Vielleicht lohnt es sich aber doch einen zweiten und vor allem intensiveren Blick zu riskieren… Oftmals verbergen sich hinter den augenscheinlich offensichtlichen Abbildungen nämlich symbolträchtige Zusammenhänge und tiefgehende Bedeutungen. 

Anfang des 16. Jahrhunderts bildeten sich neben religiösen und mythologischen Themen, als auch der Portraitmalerei immer stärker neue (sogenannte) Gattungen heraus. Darunter versteht man Landschafts-, Genre- sowie auch Stilllebenmalerei. In den Niederlanden hatte die Ausbildung dieser neuen Malereien auf Grundlage vieler Faktoren eingesetzt. Einer der Faktoren und wichtiger Bestandteil der Abkehr von „alten Mustern” war der Zustand nach der Reformation mit der damit einhergehenden gesunkenen Nachfrage nach religiöser Malerei. Den großen Schritt zur eigenen Gattung machte das Stillleben Anfang des 17. Jahrhunderts und war zu diesem Zeitpunkt als Dekorations- und Sammlerstück für die bürgerliche und aristokratische Gesellschaft längst etabliert. Was sehen nun sechs Kunsthistoriker*innen in ein und demselben Blumenstillleben? Was seht ihr liebe Leser*innen? 

Blumenstillleben Ambrosius Bosschaert d. Ä. mit einer Blumenvase in einer Fensternische, um 1620.
Ambrosius Bosschaert d. Ä., Blumenvase in einer Fensternische, um 1620, Öl auf Holz, 64 × 46 cm, Mauritshuis, Den Haag. ©Gemeinfrei

Jessica – Suche nach Realität

So viele Blüten. So viele Arten. Jede einzelne von ihnen ist sichtbar und detailreich gemalt. In der auf dem Fenstersims stehenden Vase, verziert mit blauen Steinen und kleinen, verzinnten Gesichtern, stehen die Blumen prächtig da. Lediglich eine Nelkenblüte scheint heruntergefallen zu sein und platziert sich zu den Muscheln. Wirkt der Blumenstrauß auf den ersten Blick realistisch, überzeugt das Arrangement jedoch nicht. Kein Blumenstrauß dieser Welt kann in einer solchen Vase so arrangiert werden, dass die oberen Blüten genug Wasser abbekommen würden. Vermutlich würde die Fülle dieses Arrangements und die Platzierung der Blumen die Vase davor zum kippen bringen. Und eine ganz andere Frage: Wo kommt eigentlich dieses helle, grelle Licht her? Es scheint so, als ob sich die Betrachter*innen gar nicht in einem geschlossenen Raum befinden würden, um die Landschaft im Hintergrund zu betrachten, sondern sich ebenfalls in einem Außenraum befänden, der von der Mittagssonne im Rücken beleuchtet wird. Es zeigt sich auch bei diesem Werk mal wieder: Der erste Blick kann täuschen, ein genaues Hinsehen eröffnet andere Wahrheiten.

Elisabeth – Das Goldene Zeitalter

Ein Blumenstrauß mit großen, vollen Blüten steht in einer Glasvase auf einem Sims eines offenen Rundbogenfensters. Er ist so groß, dass er fast gänzlich den ihm zur Verfügung stehenden Raum ausfüllt, sicherlich beidseitig, sowohl in Richtung der Rezipient*innen, als auch hin zur Außenwelt überhängt. Dadurch entsteht eine äußerst interessante Raumwirkung, eine Tiefenillusion, die dennoch auch in Frage zu stellen ist. Blickt man links und rechts an der Glasvase vorbei, erhascht man einen Ausblick auf eine hügelige, von Flussarmen durchzogene, saftig grüne Landschaft. Schemenhaft sind große Gebäude, vielleicht Kirchen, zu erkennen, die von einem weißen Dunst umhüllt sind. Sie liegen in der Ferne und weit unterhalb. Wo steht der/die Betrachter*in? Weit oberhalb? Vielleicht in einem Turm?

Links neben der Vase, auf dem Fenstersims, liegen eine Nelkenblüte und eine Knospe. Daneben spiegelt sich Licht in zwei kleinen Wassertropfen. Sind sie wirklich gemalt? Ein wunderbarer Trompe-l’œil-Effekt. Rechts der Vase pausiert neben zwei ganz unterschiedlich aussehenden Muscheln eine Fliege. Von innen nach außen werden die Objekte größer. Warum präsentiert sie Ambrosius Bosschaert d. Ä. in eben dieser Reihenfolge?

Fast alle Blüten des Blumenbuketts sind für den/die Betrachter*in sichtbar. Üppig, voll, farbenprächtig und bis ins Detail ausgearbeitet thronen sie auf ihren Stilen. Ihr Laub tritt farblich gesehen in den Hintergrund. Nur ihre Bewohner – eine Fliege, zwei Raupen und eine Libelle – heben sich farblich ab. Der niederländische Maler arrangiert hier Blumen, die zu unterschiedlichsten Jahreszeiten blühen. Konnten sie also überhaupt im 17. Jahrhundert gemeinsam zu einem so prächtigen Strauß gebunden werden? Oder stehen sie sinnbildlich für etwas ganz anderes? Vielleicht für den Reichtum der Niederlande in diesem Jahrhundert, für das „Goldene Zeitalter“?

Vanessa – Symbole der Vergänglichkeit

Auf den ersten Blick mag es sich um ein klischeebehaftetes Sujet handeln. Ein zweiter Blick eröffnet allerdings eine mystische und symbolträchtige Welt. Ein Blumenstillleben. Ein Strauß, farbenfroh, wie wir ihn wohl alle schon einmal in unserer Wohnung hatten. 

Platziert werden die Blumen allerdings vor einem Fenster. Womöglich aus ästhetischen Gründen oder liegt dem Arrangement doch eine tiefere Bedeutung zugrunde? Die Blumen selbst werden in einer Momentaufnahme abgebildet, die entgegen unser aller Endlichkeit für die Ewigkeit festgehalten wird. Die Vergänglichkeit, die im 17. Jahrhundert im allgemeinen Bewusstsein präsenter war, als heutzutage, wird sichtbar gemacht. Die einzelnen Elemente, die wir gegenwärtig nicht mehr zu lesen wissen, machen dem/der Betrachter*in in Zeiten von Bosschaert d. Ä. deutlich, dass auch sie dem Vergehen unterliegen. 

Exotische Muscheln, verwelkende Blumen, der Blick durch das Fenster in die Ferne. All diese Bildelemente zeigen auf, dass es sich nicht um ein Werk handelt, das lediglich einen Strauß verschiedener Blumen darstellt. Vor einigen Jahrhunderten war jedem/jeder Betrachter*in klar, welche symbolischen Objekte aus dem Gemälde sprechen. In der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts wird diese transitorische Sprache der Vergänglichkeit in der Kunst von Meret Oppenheim oder Daniel Spoerri in andere, dem Zeitgeist entsprechende, Medien übersetzt. Diese Kunst wird von den zeitgenössischen Betrachter*innen als Spiegel für die Vanitas-Symbolik verstanden und gedeutet. Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren ist bis heute in der Kunst präsent, historisch verankert ist es jedoch in barocken Stillleben, wie die „Blumenvase in einer Fensternische” von Ambrosius Bosschaert d. Ä.. 

Paul: Illusion der natürlichen Welt

So eine Fülle von verschiedenen Blumen, so eine Fülle von unterschiedlichen Farben! Man hat das Gefühl, dass mit diesem einzigen Blumenstrauß, wenn nicht die ganze, dann doch ein Großteil der natürlichen Welt abgebildet ist.

Natürlich ist das nicht der Fall – auch wenn hier schon viele unterschiedliche Pflanzenarten beisammen sind, gibt es doch unzählige mehr. Blütenpflanzen, die wir Menschen aus offensichtlichen Gründen toll finden, bilden die größte Klasse der Pflanzen, aber es gibt darüber hinaus auch wunderbare Moose, Farne und Nadelbäume. Im Hintergrund sind einige Bäume abgebildet und wenn das Auge länger verweilt, erkennt man auch ein paar Tiere: Die Fliege am unteren Bildrand ist im Vergleich zu den zwei Raupen, die sich auf den Blumen verstecken, auffällig. Die Libelle rechts oben verschwindet dagegen fast im himmelfarbenen Hintergrund.

Aber es geht Ambrosius Bosschaert d. Ä. (guter Vorname übrigens) vermutlich auch gar nicht darum, einen botanischen Überblick zu vermitteln. Vielmehr ist es die wirklichkeitsgetreue Darstellung der Welt, die er perfektioniert hat. Und als Betrachter*in will man sich ja auch täuschen lassen, sodass das Wissen, dass es sich bei dem betrachteten Objekt um Ölmalerei handelt, die Illusion nicht durchbricht, sondern die Achtung vor dem Maler steigert.

Sarah: Die Wahrheit liegt unter der Oberfläche

Was sehen wir? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns als Kunsthistoriker*innen sehr oft. Der Akt des Sehens bietet somit jedem*r Betrachter*in einen ersten Einstieg in das vorliegende Kunstwerk. Im Fall von Ambrosius Bosschaert d. Ä. „Blumenvase in einer Fensternische“ erscheint nun der Fall klar: wir sehen ein Arrangement aus verschiedensten Schnittblumen und pflanzlichen Elementen, drapiert zu einem Bouquet, als dekoratives Mittel der Raumverschönerung. Umrahmt wird die Szene durch den Ausblick aus dem Fenster auf eine weite Landschaft. Fall damit abgeschlossen, oder? Durchaus nicht. Das Feld der ikonografischen Symboldeutung gehört zur Kunstgeschichte, wie die Analyse von Symptomen in der Medizin zur Erforschung von Krankheiten. Besonders in der Deutung von Kunstwerken mit christlich oder mythologisch aufgeladenen Inhalten ist die Methode der Ikonografie, also der Deutung von Symbolen, unabdingbar. Inwiefern kann nun aber Bosschaerts Blumenarrangement hier eingeordnet werden? Auch Blumen und Pflanzen können Symbolcharakter beinhalten: Lilien deuten auf Reinheit und Unschuld hin (besonders in der Deutung der Mariensymbolik). Verwelkte Blüten wiederum mahnen als Vanitassymbole an die Vergänglichkeit. Noch nicht erblühte Knospen spiegeln Hoffnung und neues Leben wieder, Nelken sind ein Verweis auf Jesus Christus. So banal das Sujet auf den ersten Blick wirken mag ist es durchaus nicht. Wir finden also mehrere Ebenen an Inhalt innerhalb des Gemäldes. Eine solche inhaltliche Pluralität  findet sich auch in der jüngeren Kunstgeschichte wieder: George Braques und Pablo Picasso arbeiteten während ihrer kubistischen Phase mit Symbolen und Verweisen. Die jeweiligen Kunstwerke, in ihrer geometrischen Zergliederung, verweigern sich der Abstraktion durch eine gekonnte Platzierung von Hinweisen auf konkrete Objekte oder Personen. Somit offenbart sich für den*die Betrachter*in ein jeweils auf den ersten Blick erfassbarer Inhalt und eine tiefer liegende, noch zu entschlüsselnde Botschaft, sozusagen eine Ebene für Kenner und eine für Nicht-Kenner. 

Sara: Der Künstler als Schöpfer

Zu sehen ist eine mit vielen Blumen gefüllte durchsichtige Blumenvase abgestellt in einem Rundbogenfenster, das im Hintergrund eine Landschaft durchblicken lässt. Auf dem Sims liegen zwei Nelkenblüten, in geöffnetem und geschlossenem Zustand sowie zwei exotische Muscheln. Eine Libelle, eine Fliege und zwei Raupen erkenne ich im Bild.

Momentan blühen Pfingstrosen und Nelken in den Gärten, gelbe Wasserlilien säumen die Bäche und die Rosen öffnen sich langsam. Alle vier Blumenarten sind auch im Strauß von  Ambrosius Bosschaert d. Ä zu verorten. Präsent sind zudem Tulpen, Maiglöckchen, Akelai, Anemonen und Hyazinthen neben vielen mehr. Auffällig dabei ist – neben der Tatsache, dass zum Beispiel Rosen und Tulpen in der Natur niemals gleichzeitig blühen – die Anordnung und Ausgestaltung der Blüten. So gut wie jede Blüte ist botanisch bestimmbar, da en detail dargestellt, und auf die Betrachter ausgerichtet. Geht man von der Tatsache aus, dass es ein „echter“ Strauß Blumen wäre, hätte dieser auf der abgewandten Seite so gut wie keine sichtbare Blüte. Dies verdeutlicht das Arrangement des Künstlers. Was die Natur nicht vermag – diese Blumen zu gleicher Zeit blühen zu lassen – schafft der Künstler Bosschaert in einem Gemälde und stellt sich damit über „den Schöpfer der Natur“. Gleichzeitig präsentiert er sein botanisches Wissen, indem er neben offenen Blüten, die geschlossenen Knospen der Pflanze zeigt (zu sehen bei der Nelke oder den Rosen).

Ein weiterer Aspekt, der hier zum Tragen kommt, ist die allem Lebenden inne wohnende Gemeinsamkeit: der Vergänglichkeit, lat. vanitas. Etwas, das seit Beginn des 17. Jahrhundert für Stillleben zur Maxime ernannt wurde. Hier sind kleine Zeichen versteckt, die darauf hinweisen. Etwa löchrige, von Raupen zerfressene Blätter oder die Fliege am Fuß der Vase, die häufig als Symbol für Verderben/Rotte eingesetzt werden. Während uns auf der einen Seite nun die Vergänglichkeit und Endlichkeit vor Augen geführt wird, zeigt der Künstler auf der anderen Seite die Form der Erneuerung (Raupen werden zu Schmetterlingen) und das „Aufblühen“ (Knospen werden zu Blüten) des Lebens. Einen Kreislauf der – hoffentlich – nie zu Ende geht. Die Landschaft im Hintergrund lässt zwei Gotteshäuser erkennen, jeweils eines auf jeder Seite. Der Ausblick unterstreicht die Raumwirkung im Bild, die der Vase eine Dreidimensionalität verschafft und verweist gleichzeitig auf eine weitere mögliche Deutungsebene: die der Symbolik der Blüten, hier z.B. anhand der blauen Lilie. Diese stellt zum Einen die Farbe der Mutter Gottes und zum Anderen die Blüte der Keuschheit – häufig im Zusammenhang mit der Verkündigung verwendet – dar.

Abschließendes Fazit

In allen kurzen Abschnitten ist die Erkenntnis deutlich geworden, dass dieses Stillleben eines zweiten, tiefgründigeren Blickes bedarf, der es ermöglicht, Symbole zu erkennen und zu hinterfragen. Dank unseres Studiums sind wir in der Lage diese mehr oder weniger sofort zu entschlüsseln. 

Deutlich wird aber auch bei dieser Bildbesprechung wie unterschiedlich unsere Herangehensweisen und Assoziationen, trotz der gleichen Basis, sind. Während Lisa einen Teil ihres Fokus auf die Raumverteilung, Größenverhältnisse und den Landschaftsausblick legt, verlagern Paul und Sara ihr Hauptaugenmerk auf die Selbstdarstellung des Künstlers, die sich in der Illusion der geschaffenen, scheinbar perfekten Natur spiegelt.

Sarah und Vanessa verknüpfen beide die Thematik der Vanitas mit Kunst aus dem 20. / 21. Jahrhundert. Sie stellen die Unterschiede zum Rezeptionsverhalten der heutigen Betrachter*innen auf den Prüfstand und machen deutlich, dass es in moderner und zeitgenössischer Kunst nicht an inhaltlicher Pluralität mangelt.

Die Zusammenstellung und Platzierung der Blumen in der Vase auf eine reale Gültigkeit hinterfragt Jessy, wobei Alle die vielschichtigen Bedeutungen der einzelnen Blüten erwähnen. Einig sind wir uns über das Arrangement als solches, das in der Form im natürlichen Blütenstand der Pflanzen niemals zustande kommen würde und Ambrosius Bosschaert d. Ä eben definitiv mehr zeigt, als nur ein dekoratives Blumenstück.