Vincent van Gogh – Der Künstler und die Deutschen

Sonntag morgen. Der letzte Tag der Ausstellung Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe. Bereits eine halbe Stunde bevor das Städel Museum seine Tore öffnet begeben wir uns an das Mainufer und trauen unseren Augen kaum. Auf dem Gehweg vor dem Museum hat sich bereits eine Menschenschlange gebildet. Als wir nach einiger Zeit das Ende der Schlange erblickt haben, haben wir wohl keine andere Wahl, als uns einzureihen und zu warten.

Sonntag morgen. Der letzte Tag der Ausstellung Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe. Bereits eine halbe Stunde bevor das Städel Museum seine Tore öffnet begeben wir uns an das Mainufer und trauen unseren Augen kaum. Auf dem Gehweg vor dem Museum hat sich bereits eine Menschenschlange gebildet. Als wir nach einiger Zeit das Ende der Schlange erblickt haben, haben wir wohl keine andere Wahl, als uns einzureihen und zu warten.

Der Pulk setzt sich in Bewegung

Das Museum öffnet die großen Türen, Masse an Menschen setzt sich langsam in Bewegung und wir betreten schließlich die heiligen Hallen des Städel Museums. Durch die Menschenmassen, die sich mittlerweile durch die Räume des Städels drängen, bahnen wir uns den Weg zu den Ausstellungsräumen im Untergeschoss. Selbst diese großzügigen Räume wirken nun beengt und überlaufen. Der Meister van Gogh bringt sie alle in das Museum. Alle Altersstufen, alle Gesellschaftsschichten und alle Nationalitäten. Ein seltenes Phänomen, das der Kunst innewohnt, allerdings nur selten zum Vorschein kommt. Dieses letzte Ausstellungswochenende ist wohl einer dieser Momente und wir befinden uns physisch und gedanklich mitten in dieser Erfahrung.

Zu sehen ist die Frontseite des Städel Museums mit einer Menschenschlange.
Ansicht des Städel Museums, Frankfurt am Main, Fotografie
Städel Museum – Norbert Miguletz.

Eine Ausstellung, drei Themen

Die Ausstellung ist, wie ein kurzer Text zu Beginn der Schau vermittelt, in drei Bereiche aufgeteilt, die die Ausstellung auch räumlich strukturieren. So wird dem breiten Publikum vorerst der Mythos van Gogh näher gebracht und die Grundlage für das Verständnis seiner Rolle im deutschen Kunstbetrieb des 20. Jahrhunderts gelegt. Diesem spannenden Thema widmet sich der erste Abschnitt der Ausstellung, der einzelne Personen vorstellt, die an van Goghs Entwicklung zum Liebling der Deutschen maßgeblich beteiligt waren. Der zweite und dritte Komplex der Ausstellung stellt die kunsthistorische Stellung des Künstlers, seinen Einfluss auf Zeitgenossen und seine spezifische Malweise in den Vordergrund und rundet damit den Gesamteindruck eines außergewöhnlichen Künstlers ab. Klischees und Fantasien über abgeschnittene Ohren, psychische Krankheiten und den frühen Selbstmord werden bei dieser Ausstellung bewusst außen vor gelassen. Das eröffnet dem Publikum die Möglichkeit, unbekannte Aspekte im Werk des Künstlers und seine Wirkungskraft kennenzulernen.

Zu sehen ist der Eingangsbereich der Ausstellung "Making van Gogh".

Ausstellungsansicht „Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe“, Fotografie
Städel Museum – Norbert Miguletz.

Kleine Räume, große Texte

Die Wände sind in Grau gehalten. Eine gedämpfte und angenehme Atmosphäre entsteht, sodass wir die Menschenmassen um uns herum fast vergessen können. Allerdings nicht zur Gänze, denn es gestaltet sich als Herausforderung, einen Blick auf die Bilder zu erhaschen, der länger als wenige Sekunden andauert. In dieser Situation fällt uns allerdings auf, dass über den Werken die wichtigsten Angaben in großen Schriftzügen wiederholt werden, sodass selbst wir aus der hintersten Ecke erahnen können was sich im Zentrum der Aufmerksamkeit von hunderten Augen vor uns befindet. Eine simple und doch effektive Lösung, die wir bisher in so manchen großen Museen vermisst haben.

Zu sehen sind drei Gemälde an der Wand und eine Person, die davor entlang läuft.
Ausstellungsansicht „Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe“, Fotografie
Städel Museum – Norbert Miguletz.

Die Ausstellung ohne Werk

Nach einem kurzen Überblick über die Landschaftsgemälde, Portraits und Selbstbildnisse im ersten Raum, durch den wir uns gekämpft haben, erreichen wir einen Raum, der ohne ein einziges Werk des Künstlers auskommt. In schwarzweiß gehaltene großformatige Abbildungen von van Goghs Bruder Theo und dessen Frau Johanna van Gogh Bonger bringen uns das familiäre Umfeld des Künstlers näher, das für seinen späteren Erfolg in Deutschland eine ausschlaggebende Rolle spielte. Frühe Ausstellungskataloge und Briefe ergänzen dieses Bild und können bis ins Detail in einer Vitrine bestaunt werden. Die Menschenmassen scheinen sich jedoch durch diesen Raum lediglich durchzuschieben, eventuell ein kurzer Blick auf die Abbildungen, für eine tiefergehende Beschäftigung mit der Thematik fehlen dann aber anscheinend doch die meisterhaften Kunstwerke in diesem Raum.

Zu sehen ist eine Rötelzeichnung von Doktor Gachet.
Vincent van Gogh, Bildnis des Dr. Gachet, 1890, Städel Museum Frankfurt am Main, Fotografie Städel Museum, ©Städel Museum, Frankfurt am Main.

Der Rahmen ohne Bild

Dies ändert sich allerdings vorerst auch nicht, denn nun stehen wir vor einem leeren Bilderrahmen. Was an dieser Stelle fehlt ist das Bildnis des Dr. Gachet, das in den 1990er Jahren an einen privaten Sammler verkauft wurde und nun nicht mehr für eine museale Ausstellung zur Verfügung steht. Die Leerstelle haben allerdings zahlreiche unbekannte Gesichter eingenommen, die sich für ein amüsantes Foto hinter den prunkvollen Rahmen stellen und es uns fast unmöglich machen eine Fotografie des leeren Rahmens zu schießen. Auch hier zieht der leere Bilderrahmen leider eine größere Aufmerksamkeit auf sich, als die darum versammelten Informationen. Sie erklären, wie es zu diesem außergewöhnlichen Exponat kam. Begonnen bei dem Städel Museum als rechtmäßigem Besitzer des Werks, über den Umgang mit französischer Kunst zu Zeiten des Nationalsozialismus, bis hin zu der Auktion des Bildes in den 1990er Jahren. Über ein Jahrhundert an Kunstgeschichte, die letztendlich zu einem leeren Rahmen als Ausstellungsgegenstand führt und an der ein Großteil der zahlreichen Besucher achtungslos vorbeischlendert.

Zu sehen ist ein leerer Bilderrahmen und drei weibliche Personen im Vordergrund
Ausstellungsansicht „Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe“, Fotografie
Städel Museum – Norbert Miguletz.

Die Fälschung

Immer wieder bildet sich eine Traube von Menschen um ein Werk. Ein Werk, das mittlerweile den Weg in das allgemeine Gedächtnis und Verständnis von Kunst gefunden hat. Allerdings handelt es sich in diesem Fall nicht um ein Bildnis von van Gogh, sondern um eine Fälschung. Eine Fälschung, die von der Künstlerin Judith Gérard und anderen nicht als solche geschaffen wurde und selbst für das ungeschulte Auge sehr offensichtlich erscheint. Der Kunsthändler Otto Wacker ist in diesem Zusammenhang das prominenteste Beispiel und hat Anfang des 20. Jahrhunderts insgesamt 30 gefälschte Werke von van Gogh in Umlauf gebracht. Das Interesse an van Goghs Werk stieg somit bereits in den 1920er Jahren in das Unermessliche, sodass Fälschungen in einer so großen Zahl einen Absatz fanden und von Sammlern ohne intensivere Betrachtung angenommen wurden. 

Zu sehen ist eine variierte Fälschung eines van Gogh Selbstportraits.
Judith Gérard und andere, Kopie nach van Goghs Selbstbildnis für Gauguin, 1897/98, Sammlung Emil Bührle, Fotografie Städel Museum, © Sammlung Emil Bührle, Zürich.

Ruhepol

Nun betreten wir einen großen hellen Raum mit zahlreichen Sitzgelegenheiten. Diese laden dazu ein, kurz zu verweilen. Sich zu setzen und in einem der zahlreichen Ausstellungskataloge zu blättern, die zur freien Verfügung an jeder Ecke des Raums zu finden sind. Ein Ort der Erholung, eingebettet in die Ausstellung und ein Punkt, zu dem man jederzeit wieder zurückkehren kann, falls die Beine schwer werden. Ein Konzept, von dem sich so manches Museum noch eine Scheibe abschneiden kann, denn mit ausgeruhten Beinen macht der Museumsbesuch einfach mehr Spaß.

Zu sehen sind zwei Räume der Ausstellung mit mehreren Gemälden an der Wand.
Ausstellungsansicht „Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe“, Fotografie
Städel Museum – Norbert Miguletz.

Das einfache Leben

Nach einer kurzen Erholungspause begeben wir uns zum zweiten Abschnitt der Ausstellung, der sich mit van Goghs Einfluss auf seine Zeitgenossen, befreundete Künstler und deren Malweise auseinandersetzt. Die Ausstellung konfrontiert uns in diesem Zusammenhang schonungslos mit dem Leben der einfachen Menschen, dem sich van Gogh in zahlreichen Gemälden widmet. Kartoffelsetzer, eine holländische Bäuerin, der Sämann und das familiäre Leben in diesen Strukturen. Diese Thematik hat bei deutschen Künstler*innen einen bleibenden Eindruck hinterlassen, sodass sich viele auf individuelle künstlerische Weise damit auseinandersetzen.

Das Selbst 

Auch das Selbstportrait, ein Genre, für das van Gogh mittlerweile vermutlich die größte Aufmerksamkeit erlangt, ist ebenfalls eine künstlerische Ausdrucksform, die seine Zeitgenossen und Generationen nach ihm nachhaltig beeindruckt hat. Das geschah nicht ohne Grund, denn die markanten Selbstporträts, die den Künstler in den Mittelpunkt stellen, ihn sogar den Betrachter direkt anblicken lassen, sind bis dato eine große Ausnahme und sind bis auf Albrecht Dürers Selbstbildnisse in der Kunstgeschichte kaum zu finden. Die grobe Malweise unterstützt den unmittelbaren Charakter der Portraits und löst bei van Goghs Zeitgenossen das tiefe Bedürfnis aus, sich ebenfalls auf solch außergewöhnliche Weise darzustellen. So stellen sich Anfang des 20. Jahrhunderts auch Künstler, wie Max Beckmann, Peter August Böckstiegel und Ludwig Meidner auf eine sehr ähnliche Weise dar.

Zu sehen ist ein Ölgemälde. EIn Selbstportrait von Peter August Böckstiegel.
Peter August Böckstiegel, Selbstbildnis, 1913, Peter-August-Böckstiegel-Stiftung, Werther (Westf.), Fotografie Städel Museum, © Peter-August-Böckstiegel-Stiftung, Werther (Westf.).

Van Goghiana

Der nächste Raum hält zahlreiche Landschaftsgemälde van Goghs für die Besucher*innen bereit. Allerdings finden sich auch hier zahlreiche Zeitgenossen und Künstler aus Deutschland, die offensichtlich von van Goghs Art zu Malen, beeindruckt waren und sie in ihre individuelle künstlerische Geste einfließen lassen. Daraus resultiert neben einem Blumenbeet von Ernst Ludwig Kirchner beispielsweise auch die Darstellung einer Steilküste von Karl Schmidt-Rottluff, die auf den ersten Blick so sehr an van Gogh erinnern, dass die Entdeckung des Künstlernamens eher für Verwunderung sorgt.

Kontur

Zurück in dem hellen Sitzbereich, der mit der Zeit zunehmend von den Besuchern in Anspruch genommen wird, begeben wir uns zum thematisch und auch räumlich letzten Teil der großangelegten Ausstellung. Dieser Komplex geht genauer auf van Goghs Malweise, seine unterschiedlichen Herangehensweisen und vergleichend auf den konkreten Einfluss des Künstlers auf seine Zeitgenossen ein.

Zu sehen ist ein Ölgemälde. Mehrere Bäume sind im Vordergrund, zwei hohe Berge im Hintergrund zu sehen.
Gabriele Münter, Allee vor Berg, 1909, Privatbesitz, Süddeutschland, Fotografie Städel Museum, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, © Galerie Thomas, München.

Farbe und Fläche

Dabei geht die Ausstellung thematisch auch auf die Vorbilder van Goghs ein, die sich phasenweise in seiner Malweise äußern. Paul Gauguin, den van Gogh zeitweise als einen Freund bezeichnet, beeinflusst ihn maßgeblich. Die klare Abtrennung der einzelnen Bildflächen voneinander, wie es auch für den japanischen Farbholzschnitt typisch ist, findet sich nach van Goghs Auseinandersetzung mit Gauguins Werk auch vermehrt in seinen eigenen Arbeiten. Dabei steht im Vordergrund, dass die Farben im Bild eine gewisse Aufwertung erfahren und der Aufbau des Bildes im gleichen Maße eine Beruhigung erfährt. Eine Technik, die van Gogh auch an Künstler*innen, wie August Macke oder Gabriele Münter vermittelt hat.

Die Sonne

Abschließend empfangen uns zahlreiche Sonnen. Die unterschiedlichsten Sonnen, die sich allerdings in Strahl- und Ausdruckskraft in nichts nachstehen. Die Sonne als lebensspendender Stern, der den Tag erst zu einem solchen macht und in schweren Zeiten möglicherweise etwas Trost spendet, steht bei van Gogh als strahlender Fixpunkt sowohl in der thematischen, als auch kompositorischen Mitte der Bilder. Ein außergewöhnlicher Umgang mit dem Licht und dessen Quelle. Während zuvor meist das indirekte Licht das Bild erhellt, stellt van Gogh seit seiner Ankunft in Südfrankreich die Sonne selbst dar; als hoffnungs- und lebensspendendes Symbol, das in schweren Zeiten die Lebensgeister neu entfachen kann. Dieser innovative und selbstbewusste Umgang wurde von Expressionisten und auch Otto Dix in sein Werk aufgenommen, allerdings mit einer anderen Interpretation behaftet. Während van Gogh die Sonne als positives Symbol für das Leben sieht, deuten die Expressionisten sie als apokalyptisches Zeichen, das einer nahenden Katastrophe vorausgeht.

Zu sehen ist ein Ölgemälde. Drei Weiden auf einem gelben Feld vor einem Sonnenuntergang.
Vincent van Gogh, Weiden im Sonnenuntergang, 1888, Kröller Müller Museum, Otterlo, Niederlande, Fotografie Städel Museum, ©Kröller-Müller Museum, Otterlo, Niederlande.

Der Künstler

Die Sonne, die uns das Ende der Ausstellung verheißt, hat Symbolkraft. Womöglich für jede/n Besucher*in eine andere. Positiv oder negativ konnotiert. Eine gewisse Ähnlichkeit zu dem Künstler selbst, dem diese außergewöhnliche und durchdachte Ausstellung gewidmet ist. Ein Künstler, der verarmt stirbt, auf seine Zeitgenossen allerdings einen prägenden Einfluss hat. Der Anfang des 20. Jahrhunderts als französischer Künstler aus den deutschen Museen verschwinden soll und heute als einer der teuersten gehandelt wird. Eine Kontroverse, die uns auch auf dem Weg zurück an das Tageslicht, die Sonne, noch begleitet. Und als wir uns nun den Weg vorbei an der unendlich langen Schlange vor der Tür bahnen denken wir an das, was diese Menschen noch vor sich haben. Eine wirklich gute Ausstellung.