Kein Witz. No Joke im Kunstverein Reutlingen

Gewöhne dich nicht daran. Mit diesen Worten empfängt der Kunstverein Reutlingen mit seiner Ausstellung Kein Witz. No Joke. Eine große Leinwand trägt diese Aufforderung, eine Leinwand, die die Künstlerin Sophie Reinhold geschaffen hat. Es ist ein Werk, das einen in den Bann zieht, Neugierde weckt und auch Fragen aufwirft. Man tritt automatisch näher. Der Blick haftet auf dem Bild. Was bedeutet diese Aufforderung? Wer fordert auf? Und vor allem: Warum?

Gewöhne dich nicht daran. Mit diesen Worten empfängt der Kunstverein Reutlingen mit seiner Ausstellung Kein Witz. No Joke. Eine große Leinwand trägt diese Aufforderung, eine Leinwand, die die Künstlerin Sophie Reinhold geschaffen hat. Es ist ein Werk, das einen in den Bann zieht, Neugierde weckt und auch Fragen aufwirft. Man tritt automatisch näher. Der Blick haftet auf dem Bild. Was bedeutet diese Aufforderung? Wer fordert auf? Und vor allem: Warum? Ist das wirklich eine Leinwand? Und wie wurden diese großen Buchstaben auf das Medium gepackt? Sophie Reinholds Arbeit lädt ein näher betrachtet zu werden. Also tritt man heran und staunt, denn es handelt sich nicht um eine „ebene“ Malerei, es sind Schichten auf Schichten, die sich zu einer einzigartigen und äußerst lebendigen Reliefstruktur aufbauen. Man bückt sich, streckt sich, geht nach links und nach rechts. Alle Seiten werden betrachtet, alle verschiedenen Strukturen wollen gefunden werden und man fängt an zu überlegen, welche Schicht auf welcher liegt, wie viele es überhaupt sind, welche Materialien benutzt wurden und wie Sophie Reinhold dieses unglaubliche Werk überhaupt hergestellt hat.

Gewöhn dich nicht daran – Sophie Reinhold

  • Sophie Reinhold. Gewöhne dich nicht daran. 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 190 x 140 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke.
  • Sophie Reinhold. Gewöhne dich nicht daran. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 190 x 140 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen, Kein Witz. No Joke
  • Sophie Reinhold. Gewöhne dich nicht daran. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 190 x 140 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke

Gewöhne dich nicht daran. An was soll man sich nicht gewöhnen? Und wer fordert hier auf? Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich mit der Künstlerin selbst, ihrem Leben beschäftigen. Sophie Reinhold wurde 1981 in Ost-Berlin geboren. Auch heute lebt und arbeitet die Künstlerin in Berlin. Sie studierte Malerei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, sowie an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Sie war also sieben Jahre alt, als die Mauer fiel. Sie trägt ihren eigenen Habitus, einen Habitus, der an ihr klebt. Zwar sind Kinder flexibel, als Siebenjährige ist man mit Sicherheit anpassungsfähig, soweit man es sein muss und will. Dennoch haben sich in diesem Alter bestimmte Strukturen schon gefestigt und verinnerlicht. Und das auch, wenn man es nicht bewusst getan hat. Ein Prozess, der sehr gerne auch unbewusst abläuft. Man wurde geprägt, geprägt durch die Gesellschaft und die Kultur, die einen umgibt, durch die Medien, Sprache, Bilder, Menschen. Alles, was einem vertraut ist, prägt uns als Persönlichkeit. All das ist Habitus. Und Sophie Reinholds Habitus könnte als Post-DDR bezeichnet werden. So ist es nicht verwunderlich, dass die Aufforderung Gewöhn dich nicht daran eine Aufforderung an die Bürger der ehemaligen DDR ist. Propaganda eines Staates. Ein Aufmerksammachen darauf, dass man sich nicht an Tabletten gewöhnt, dem Missbrauch dieser nicht verfällt. Der Staat, der Achtsamkeit vermittelt. Wie man das findet, sei an dieser Stelle jedem selbst überlassen.Um die Welt von Sophie Reinhold besser zu verstehen, betrachten wir weitere Werke von ihr.

Privates, Häusliches und Kinderbuchillustration

  • Sophie Reinhold. True listening. 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 80 x 60 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke, Foto: Elisabeth Weiß
  • Sophie Reinhold. True listening. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 80 x 60 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke, Foto: Elisabeth Weiß
  • Sophie Reinhold. True listening. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 80 x 60 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke, Foto: Elisabeth Weiß

True listening. Ein Mann sitzt am Tisch, hält in seiner rechten Hand eine Hühnerkeule, die er auf der Tischplatte direkt neben einem Glas Milch abgelegt hat. Seine Linke ist vor seinem Mund. Seine Finger führen ein kleines Stück Fleisch zu diesem. Riecht er daran? Oder öffnet sich sein Mund gleich? Er starrt nachdenklich auf den Tisch. Im Hintergrund links eine Grünpflanze, rechts davon eventuell ein Gang, daneben ein Vorhang und eine Wand. Der Raum ist nicht ins Detail ausgearbeitet. Der Fokus soll auf der Szene im Vordergrund liegen. Auf dieser doch sehr alltäglichen Szene. Vielleicht sogar hauptsächlich auf der grauschwarzen Katze? Auf diesem einzigartigen wunderbaren Tier? Erstaunlicherweise ist sie von dem Duft der Hühnerkeule nicht abgelenkt, ihr Blick nicht auf das saftige Stück Fleisch gerichtet. Sie fixiert die Betrachter*innen, verfolgt sie, egal, aus welchem Winkel auf das Kunstwerk geschaut wird. Ein leises verschmitztes Lächeln, fast wie das der Mona Lisa. Ein Werk mit Witz und Humor.

Sophie Reinhold. Suite Nr. 2. 2019, pigmentiertes Marmormehl auf Jute, 100 x 80 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold. Sophie Reinhold. Suite Nr. 1. 2019, Graphit auf Marmormehl auf Jute, 100 x 80 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold. Sophie Reinhold. Suite Nr. 3. 2019, Tapete auf Bitumen auf Jute, 100 x 80 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz, No Joke, Foto: Elisabeth Weiß
Sophie Reinhold. Suite Nr. 2. 2019, pigmentiertes Marmormehl auf Jute, 100 x 80 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold. Sophie Reinhold. Suite Nr. 1. 2019, Graphit auf Marmormehl auf Jute, 100 x 80 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold. Sophie Reinhold. Suite Nr. 3. 2019, Tapete auf Bitumen auf Jute, 100 x 80 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.

Suite Nr. 1-3. Drei Fenster, die nebeneinander hängen. Sie bilden eine Reihe, stehen aber auch einzeln für sich. Auffallend ist die Bildform der drei Arbeiten. Sie brechen mit der gängigen Form, auf der Malerei gerne präsentiert wird. Die Künstlerin wählte kein Rechteck, sondern ein unkonventionelles Viereck, das mit Jute bespannt ist. In dieser Grundform gleichen sich die drei Darstellungen, ebenso wie im grundlegenden Raster, in den Fensterstreben. Doch auf der Jute finden sich ganz unterschiedliche Materialien.

  • Sophie Reinhold. Suite Nr. 2. 2019, pigmentiertes Marmormehl auf Jute, 100 x 80 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke, Foto: Elisabeth Weiß
  • Sophie Reinhold. Suite Nr. 1. 2019, Graphit auf Marmormehl auf Jute, 100 x 80 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz, No Joke, Foto: Elisabeth Weiß
  • Sophie Reinhold. Suite Nr. 3. 2019, Tapete auf Bitumen auf Jute, 100 x 80 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke, Foto: Elisabeth Weiß

Suite Nr. 2, mit weißen Fensterstreben, legt einen Blick nach außen frei, auf einen Sonnenauf- oder -untergang, den Sophie Reinhold mit pigmentiertem Marmormehl umgesetzt hat. Suite Nr. 1 ist eine Nachtdarstellung, die durch die Mischung aus Graphit und Marmormehl eine glänzende Oberfläche aufweist. Wie hat Sophie Reinhold hier gearbeitet? Wie entsteht diese beeindruckenden Strukturen? Suite Nr. 3 tritt der Betrachter*in mit einer ganz anderen Erscheinung gegenüber. Man fühlt sich wie in einer kleinen Wohnung, mitten in einer Großstadt. Der Blick aus dem Raum fällt ins Freie auf eine Klinkerwand.

Wenn man diese drei Fenster nebeneinander betrachtet, erkennt man auf ganz subtile Art und Weise die Aussage, den Witz hinter diesen Werken. Tag, Nacht, Realität. Diese drei Worte bringen einen zum Nachdenken. Wo stehen wir eigentlich? Im Moment, alleine und auch als Gesellschaft. Vor einer Mauer?

  • Sophie Reinhold. Boxing bunnies. 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 80 x 60 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke, Foto: Elisabeth Weiß
  • Sophie Reinhold. Boxing bunnies. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 80 x 60 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke, Foto: Elisabeth Weiß
  • Sophie Reinhold. Boxing bunnies. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 80 x 60 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke, Foto: Elisabeth Weiß
  • Sophie Reinhold. Boxing bunnies. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 80 x 60 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz. No Joke, Foto: Elisabeth Weiß

Boxing bunnies. Hasen, die sich schlagen und trotzdem in ihrer Art der Darstellung an Figuren aus einem bebilderten Kinderbuch erinnern. Oder erkennt man Albrecht Dürers berühmte Hasendarstellung in diesem Werk? Für die Betrachter*in beginnt recht schnell ein Identifizierungsprozess. Tieren menschliche Züge und Verhaltensweisen zu schenken, gibt auch Sophie Reinhold die Möglichkeit Kritik zu äußern, versteckt und auf einem subtilen Weg.

Exekutive. Gesellschaft

Sophie Reinhold. Untitled (POLI). 2019, pigmentiertes Marmormehl auf Jute, 140 x 190 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Kein Witz, No Joke, Foto: Elisabeth Weiß
Sophie Reinhold. Untitled (POLI). 2019, pigmentiertes Marmormehl auf Jute, 140 x 190 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.

Mit großen Buchstaben und intensivem Blau zieht einen Untitled (POLI) in den Bann. P-O-L-I, eine Anspielung auf Polizei, sowohl durch die Farben, als auch durch die Buchstaben. Aber auch „polis“ kann darin gelesen und gefunden werden, das altgriechische Wort für Staat und Gesellschaft.

Sophie Reinhold. Untitled (POLI). 2019, pigmentiertes Marmormehl auf Jute, 140 x 190 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold. UND: Ruth Wolf-Rehfeldt. Emptiness. 1974, Karbonkopie von Original-Typewriting, 29,5 x 21 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.
Sophie Reinhold. Untitled (POLI). 2019, pigmentiertes Marmormehl auf Jute, 140 x 190 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold. UND: Ruth Wolf-Rehfeldt. Emptiness. 1974, Karbonkopie von Original-Typewriting, 29,5 x 21 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.

Daneben, fast verschwindend klein neben dem großformatigen Werk Sophie Reinholds, hängt Ruth Wolf-Rehfeldts Werk Emptiness. Dass diese beiden Arbeiten nebeneinander hängen, ist eine ästhetische Entscheidung der Kuratorin Imke Kannegießer. Wie eine Zielscheibe lädt das nur 29,5 auf 21 Zentimeter große Werk von Ruth Wolf-Rehfeldt ein „beschossen“ zu werden. Und genau diese werden bei Schießübungen von Polizist*innen genutzt. Die Exekutive des Staates, die diese beiden Werke, die unterschiedlicher nicht sein könnten, verbindet.

Ruth Wolf-Rehfeldt. Emptiness. 1974, Karbonkopie von Original-Typewriting, 29,5 x 21 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.
Ruth Wolf-Rehfeldt. Emptiness. 1974, Karbonkopie von Original-Typewriting, 29,5 x 21 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.

Typewritings – Ruth Wolf-Rehfeldt

Ruth Wolf-Rehfeldt ist 1932 in Wurzen, Sachsen, geboren worden. Sie arbeitet im buchstäblichen Sinn mit Buchstaben. Drückt ihre Gefühle, ihre Lebenssituation mit sogenannten Typewritings, Schreibmaschinenarbeiten, aus. Mit diesem Gerät konnte sie bestens umgehen, war das Maschinenschreiben früher eine der Hauptaufgaben einer Industriekauffrau. Sie fand schnell eine Tätigkeit in der Akademie der Künste der DDR. Nebenberuflich zeichnete und malte sie als Autodidaktin, schrieb Gedichte, die sie allerdings niemandem zeigte.In den 1970er und 1980er Jahren schuf sie mitten in Ostberlin ihre Typewritings, Konglomerate an Buchstaben, Graphiken, die sie lediglich mit ihrer Erika-Schreibmaschine umsetzte. Muster, Wellen, abstrakte Kompositionen – sie verwandelte die alphabetischen Reihen, diese Worte, in fließende Strukturen, in kunstvolle Poesie. 1975 wurde sie Kandidatin und kurz darauf Mitglied im Verband bildender Künstler der DDR. Als Künstlerin beteiligte sie sich, wie auch ihr Mann Robert Reinholdt, an der Mail Art, einer Kunstform, die in den Staaten notwendig war, in der die Gesellschaft unter politischer Repression stand. Reisen in die große weite Welt waren nur unter sehr erschwerten Umständen möglich. So tauschte man sich und vor allem die Kunst über den offiziellen postalischen Weg aus.

Sinnbild der DDR

Ruth Wolf-Rehfeldt. Fragezeichen. Mitte 1970er, Original-Typewriting, 14,7 x 9,1 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.
Ruth Wolf-Rehfeldt. Fragezeichen. Mitte 1970er, Original-Typewriting, 14,7 x 9,1 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.

Mit Satzzeichen und Buchstaben konstruierte Ruth Wolf-Rehfeldt Figuren, Sinnbilder für das Leben in der DDR, mit einem äußerst beeindruckendem Einfallsreichtum. Sie schuf Buchstabenbilder, Gedichte in Bildform, poetische Kunst. Gleich einem Pinsel oder einem Stift verwendete sie ihre Schreibmaschine als Herstellungsmedium, mit dem sie diese grafischen Kompositionen wie das Werk Fragezeichen erzeugte.

Ruth Wolf-Rehfeldt. Concrete Shoes. Mitte 1970er, Original-Typewriting mit Bleistiftzeichnung, 14,3 x 10,7 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.
Ruth Wolf-Rehfeldt. Concrete Shoes. Mitte 1970er, Original-Typewriting mit Bleistiftzeichnung, 14,3 x 10,7 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.

Concrete Shoes besteht aus einer Vielzahl von Cs, Os und Ns, die sich zu einem klobigen Damenstiefel mit mittelhohem Absatz zusammensetzen. Optische Effekte wie Perspektive, Licht- und Schattenwirkung lassen die reine Aneinanderreihung von Buchstaben zu einem Objekt werden. Ein Schuh kann als Sinnbild für Bewegung interpretiert werden. Steht dieser Stiefel etwa für die Bewegungseinschränkung, die Ruth Wolf-Rehfeldt in der DDR erlebte? Oder steht er für den Wunsch der Künstlerin, genau diese zu überwinden?

Der Triptychon der Gedanken

Fragezeichen und Concrete Shoes rahmen in der Ausstellung des Kunstvereins das Werk The Return of the Fool von Sophie Reinhold.

Sophie Reinhold. The Return of the Fool. 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 190 x 140 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
Sophie Reinhold. The Return of the Fool. 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 190 x 140 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.

Eine Ratte wandert in schöner Landschaft. Durch ihre menschlichen Züge und auch den Marienkäfer in der rechten unteren Bildecke, erinnert diese Darstellung, wie auch die Boxing bunnies, an Illustrationen aus Kinderbüchern. Wie „Hans guck in die Luft“ schlendert die Wanderratte mit festen Schritten umher. Der nächste steht just bevor. Doch wohin? Der Betrachter*in wird klar, dass gleich eine Tragödie passieren wird. Der Ratte nicht, schaut sie doch nach oben in den Himmel. Vor ihr geht es nur ins Nichts. Der Fuß wird nur Luft erreichen, die Ratte einen Abgrund hinunterstürzen.

Diese drei Werke, die von Imke Kannegießer als Triptychon arrangiert wurden, zeigen wohl die entscheidende Gemeinsamkeit der beiden Künstlerinnen, die sich nicht persönlich kennen, die 49 Lebensjahre trennen. Sie üben Kritik – Kritik an der Gesellschaft, an einem existierenden Gesellschaftsbild. Sie setzen sich in ihren Werken mit einer Art Selbstverständnis auseinander, mit dem reinen Künstlerinnendasein. Wie wird man groß in einem Staat, in dem jeder Schritt beobachtet wird? Was bedeutet es sozialisiert zu sein? Wo steht eigentlich die Gesellschaft? Alle Werke, die in der Ausstellung Kein Witz. No Joke gezeigt werden, tragen die Gedanken auf ihre Art und Weise in sich, regen zum Nachdenken an, geben vielleicht sogar Antwortmöglichkeiten.

Stehen wir vielleicht gerade auch vor einem Abgrund? „Ob die Natur sich nicht übernahm, als sie sich den Menschen leistete?“ Jede Besucher*in findet in diesen Werken seine / ihre ganz persönlichen Momente um die die Gedanken vielleicht kreisen. Klimawandel, Frauenbild, Grenzen – Sophie Reinhold und Ruth Wolf-Rehfeldt haben sich augenscheinlich mit einigen dieser Themen sehr intensiv auseinandergesetzt.

Auch in Waiting Invane, In Vain, Try and Error und Paraphrase von Wolf-Rehfeldt, wie in Untitled (BVG), Untitled (BSR), Untitled (Stop) und in der Allegorie der vier Jahreszeiten von Sophie Reinhold finden sich subtile Botschaften und stiller Humor.

  • Ruth Wolf-Rehfeldt. Waiting Invane. 1973, Karbonkopie von Original-Typewriting, 29,5 x 21 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.
  • Ruth Wolf-Rehfeldt. In Vain. 1972, Karbonkopie von Original-Typewriting, 29,3 x 20,7 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.
  • Ruth Wolf-Rehfeldt. Try and Error. 1975, Original-Typewriting und Karbonkopie, je 29,5 x 21 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.
  • Ruth Wolf-Rehfeldt. Paraphrase. Mitte 1970er, Karbonkopie von Original-Typewriting, 21 x 13 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.
  • Sophie Reinhold. Untitled (BVG). 2019, Graphit und pigmentiertes Marmormehl auf Jute, 140 x 190 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
  • Sophie Reinhold. Untitled (BSR). 2019, pigmentiertes Marmormehl auf Leinwand, 140 x 190 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
  • Sophie Reinhold. Die Allegorie der vier Jahreszeiten. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 180 x 400 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
  • Sophie Reinhold. Untitled (Stop). 2019, pigmentiertes Marmormehl auf Leinwand, 140 x 190 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.

Märchen inmitten der Kritik

  • Sophie Reinhold. The allegory of sink or swim. 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 195 x 200 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
  • Sophie Reinhold. The allegory of sink or swim. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 195 x 200 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
  • Sophie Reinhold. The allegory of sink or swim. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 195 x 200 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
  • Sophie Reinhold. The allegory of sink or swim. Detail, 2019, Öl auf Marmormehl auf Jute, 195 x 200 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.

The allegory of sink or swim. Eine Märchenwelt öffnet sich der Betrachter*in. Vögel an einem See mit Seerosen finden sich auf der geschwungenen Leinwand. Dieses Werk lädt ein sich intensiver mit der Arbeitsweise der Künstlerin auseinanderzusetzen. Öl auf Stein- oder Stahlmehl, Jute, auf die Schicht über Schicht aufgetragen wird. Grundiert wird mit eigens von der Künstlerin hergestelltem Mehl, das der Jute Halt bietet. Schicht für Schicht wird aufgetragen, immer wieder abgeschliffen. Dadurch entsteht eine folienähnliche Oberfläche. Diese bearbeitet Sophie Reinhold mit einem scharfen Gegenstand, trägt Bereiche wieder ab. So entstehen sogenannten Cut-Outs. Ein Relief baut sich auf. Mit Farbe konturiert die Künstlerin ihre Werke. Es entsteht Malerei mit skulpturaler Haptik. Was bedeutet für Sophie Reinhold Malerei? Was zeichnet diese überhaupt aus? Wie wird etwas zum Bild? Sophie Reinhold führt ihre Gedanken, abstrakte Formen, Materialspezifik und auch das Spannungsverhältnis zwischen Oberfläche und Objekt in ihren großformatigen Arbeiten zusammen. Ihre Werke entziehen sich den konventionellen Selbstverständlichkeiten, die dem Genre Malerei zugeschrieben werden. Ihre Arbeiten lenken behutsam Sinne und Gedanken. Dies gilt auch für die Werke Zwanglos 1, Zwanglos 2 und Water of Life (rosé, yellow, blue).

Einmal durch das Badezimmer

  • Sophie Reinhold. Zwanglos 1 und Zwanglos 2. 2019, Badewanne, Styrodur, je 85 x 76,5 x 35 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
  • Sophie Reinhold. Water of Life (rosé, yellow, blue). 2019, pigmentiertes Epoxydharz, Glasfaser, je 55 x 35 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
  • Sophie Reinhold. Water of Life (rosé). 2019, pigmentiertes Epoxydharz, Glasfaser, je 55 x 35 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
  • Sophie Reinhold. Water of Life (yellow). 2019, pigmentiertes Epoxydharz, Glasfaser, je 55 x 35 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.
  • Sophie Reinhold. Water of Life (blue). 2019, pigmentiertes Epoxydharz, Glasfaser, je 55 x 35 cm. Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Foto: Elisabeth Weiß, © Sophie Reinhold.

Diese Skulpturen repräsentieren das Häusliche, das individuelle Private im Ausstellungskontext. Humorvolle Installationen, die einladen genauer betrachtet zu werden. Wie auf einem Thron sitzt man auf Zwanglos 1 und Zwanglos 2, auf Ausschnitten einer Badewanne. Water of Life, der Mensch als eigener Brunnen des Lebens ein Gesundheitsideal, das vielleicht auch nicht für jeden etwas ist.

Das Spiel mit der Sprache

Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Arbeiten von Ruth Wolf-Rehfeldt. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.
Ausstellungsansicht: Kunstverein Reutlingen. Arbeiten von Ruth Wolf-Rehfeldt. Foto: Elisabeth Weiß, © Ruth Wolf-Rehfeldt.

Die letzten Wände schmücken Arbeiten von Ruth Wolf-Rehfeldt. Ihre architektonischen Arbeiten, die Letter Curtains, ihr Spiel mit der Sprache ergeben konkrete Poesie. Ihre Arbeiten brechen Grenzen, Grenzen zwischen darstellender Kunst und Poesie, zwischen Ländern und ihren Systemen. Nach der Wende 1989 beendete sie ihren Schaffensprozess, sah sie doch keine Notwendigkeit mehr, keinen Bedarf.

Kein Witz. No Joke

Ausstellungsrundgang von Kein Witz. No Joke im Kunstvereine Reutlingen mit Werken von Sophie Reinhold und Ruth Wolf-Rehfeldt. Video: Jessica Plautz.

Imke Kannegießer, Künstlerische Leiterin des Kunstvereins Reutlingen, hat durch ihre Hängung die humorvolle Kritik an der Gesellschaft, die beide Künstlerinnen in ihren Werken tragen mit einem unglaublichen Geschick unterstrichen. Eine Ausstellung, die zum Nachdenken anregt, und zum gemeinsamen Diskutieren. Die einen vielleicht bei den eigenen Gedanken abholt und mit Sicherheit auch irgendwie bestätigen kann. Ein äußerst spannendes Zusammenspiel von drei Frauen, von Sophie Reinhold, Ruth Wolf-Rehfeldt und Imke Kannegießer, die nun ihre Gedanken in einer Räumlichkeit, dem Kunstverein Reutlingen präsentieren.

Bis zum 03. November sind die Türen von Kein Witz. No Joke. noch geöffnet.