May You Live In Interesting Times – BIENNALE DI VENEZIA 2019

Das Gefühl der Biennale begleitet uns auch in der Heimat und ruft auch Tage später noch eine Sehnsucht nach der Stadt, der Sonne und vor allem der Kunst und ihren Eindrücken hervor.

Bei aufmerksamer Beobachtung erkennt man Tübingen, den Bodensee, die Schweizer Alpen und letztendlich den Po und die Lagune von Venedig. Der Blick aus dem Fenster des Flugzeugs nimmt bruchstückhaft den Weg von Stuttgart nach Venedig auf. Der einzige Beweis, dass man sich mit Verlassen des Flugzeugs nicht in einer anderen Welt befindet.

Das Klima überwältigt einen mit dem ersten Atemzug der venezianischen Luft, mit dem Duft des Meeres, der Algen und des Sommers. Betritt man das Boot in Richtung der Lagunenstadt realisiert man, dass man sich nun tatsächlich in der geschichtsträchtigen Stadt der Kunst, des Handels und der Kultur befindet. Der Weg zum Hotel erweist sich stets als Herausforderung, denn die Stadt wurde nicht für Rollkoffer und müde Beine errichtet. Ein erster Lichtblick eröffnet einem allerdings bereits vor der endgültigen Ankunft die Gefühlswelt der Biennale. In einer engen Gasse, abseits der großzügigen Hauptachsen,  wird der Blick in eine offene Tür gelenkt. Der Raum ist erfüllt von mystischen Klängen und mit einem Mal befindet man sich mitsamt des Rollkoffers im mongolischen Pavillon und damit in einer Installation von Jantsankhorol Erdenebayar. Man ist angekommen. Auf einmal scheint alles andere, das Hotel, die Hitze, die müden Beine und das Gepäck, Nebensache zu sein und die Kunst zieht einen in ihren Bann.

EVENTI COLLATERALI

Der Tag beginnt mit einem kurzen Frühstück und der Absprache eines Plans für die Erkundung der Umgebung und den Nebenschauplätzen der Kunstausstellung in der Stadt. Dieser Plan ist allerdings bereits nach kurzer Zeit zum Scheitern verurteilt, denn die Kunst braucht Zeit und lässt sich nicht in einen Zeitplan drängen.

Konsum

Andorra, ein versteckter Pavillon im Hinterhof am Ende einer verzweigten Gasse wird zum ersten Stopp auserkoren. Betitelt mit „the future is now“ bringt die Ausstellung des Künstlers Phillippe Shangti den/die Betrachter*in den ständig zunehmenden Konsum, einen Konflikt der heutigen Zeit, näher.

Installation von Phillippe Shangti im Pavillon von Andorra. Frauenskulptur aus Stein tritt durch ein Fenster in eine paradiesische Insellandschaft.
Phillippe Shangti, Gate of lost Paradise Park – The Future is Now, 2018, Foto Vanessa Braun, © Government of Andorra.

Überwachung und Verbrechen

Mit diesem Denkanstoß im Kopf finden wir den Weg zurück zu den Menschenmassen. 3x3x6, das Kunstprojekt von Shu Lea Cheang, befindet sich im Zentrum des Touristenstroms, im Gebäude des Gefängnisses, aus dem einst Casanova ausgebrochen ist. Am Fuß des Treppenaufgangs wird der/die Besucher*in von einer seelenlosen Puppe in einem Ticketschalter empfangen. Schriftlich wird man vor dem Betreten der Ausstellung darüber aufgeklärt, dass 3D Kameras die Besucher*innen filmen und diese Aufnahmen im Rahmen der Kunstwerke verwendet werden. Das Fotografieren ist allerdings verboten. Im ersten Geschoss betritt man einen abgedunkelten Raum, angefüllt mit Bildschirmen, Kabeln und Computern. Vorgestellt werden Männer und Frauen, die stellvertretend für reale Verbrecher*innen in Lebensgröße abgebildet werden. Dabei liegt es im Auge des/der Betrachters/Betrachterin zu beurteilen, ob die vollzogene Bestrafung für das Verspeisen eines Menschen oder das wissentliche Verbreiten der HIV-Infektion angemessen ist. Unterbrochen werden die Abbildungen der Straftäter*innen durch die Wiedergabe der Filmaufnahmen, die zuvor von den Besucher*innen gespeichert wurden. Der/Die Besucher*in befindet sich somit nicht nur räumlich in dem geschichtsträchtigen Gefängnisgebäude, sondern wird ein Teil der Zurschaustellung von Verbrechen und Verbrecher*innen. Ein Gefühl der Überwachung und eine gewisse Beklemmung wird einen auf dem weiteren Weg durch die Stadt begleiten.

Kunst und Funktionalität

Durch zahlreiche verzweigte Gassen finden wir daraufhin den Weg zum goldenen Haus, der Ca´ d´Oro. Der Palazzo am Canale Grande beherbergt während der Biennale Arte 2019 nicht nur seine historische Sammlung, sondern zeigt auch Arbeiten zeitgenössischer Künstler*innen, eingebettet in das Sammelsurium der historischen Werke. Unter dem Titel DYSFUNCTIONAL vereinigt die Galleria Giorgio Franchetti in dem Palazzo einundzwanzig junge Künstler*innen, die mit ihren Werken die Grenzen der Kunst sprengen. Grenzen zwischen Kunst, Design, Funktionalität, dem Raum und den Betrachter*innen.

Zu sehen ist eine künstliche Tropfsteinhöhle aus buntem Kunsthaar.
Hrafnhildur Arnardóttir, Shoplifter, Chromo Sapiens, 2019, Ausstellungsansicht, Foto Vanessa Braun.

Fantasie und Geborgenheit

Vorbei an zahlreichen weiteren Pavillons wechseln wir das Ufer und schlendern über die Insel Giudecca. Auf der Suche nach einem Hinweis auf den isländischen Pavillon streifen wir entlang des Wasser. Im Hinterhof alter Fabrikgebäude werden wird letztendlich fündig, denn die mystischen Klänge der isländischen Höhlenlandschaft im Inneren des Pavillons dringen bis auf die Straße. Völlig erschöpft von den langen Fußwegen betritt man eine erholsame bunte Oase des Wohlklangs. Die wenigen Besucher*innen scheinen fast mit der Höhle aus Kunsthaar zu verschmelzen und stören das Bild, das sich den Betrachter*innen bietet, kaum. In der künstlichen Tropfsteinhöhle der Künstlerin Hrafnhildur Arnardóttir verschwindet das Bewusstsein für die Umwelt, die Stadt, die Lagune, die einen umgibt. Man scheint sich in einer zauberhaften und wohltuenden Höhle zu befinden, in der man neue Energie tanken und Gedanken schweifen lassen kann. Mit dieser inspirierenden Energie gehen wir in den Abend und lassen ihn mit einem Blick über die Lagunenstadt ausklingen.

ARSENALE

Der neue Tag bringt zahlreiche neue Eindrücke. Vorbei an den Ausstellungen von Shirley Tse: Stakeholders, Hong Kong in Venice und Heidi Lau: Apparition betreten wir das Gelände der alten Schiffswerft, das Arsenale. In Empfang genommen werden wir von einem großformatigen Gemälde des Künstlers George Condo. Der Titel „Double Elvis“ verweist auf Andy Warhol, für den der Künstler an dessen „Myths“ Serie gearbeitet hat. Die Darstellung zweier grobschlächtiger Trunkenbolde auf einer riesigen Leinwand schafft dabei allerdings einen bewussten Kontrast zu Warhols Darstellung des „Kings“ Elvis Presley. Mit einem amüsierten und irritierten Gefühl betreten wir also die große Gruppenausstellung in den maroden Gebäuden der ehemaligen Flottenbasis.

Zu sehen ist ein großformatiges Gemälde von George Condo. Darauf abgebildet sind zwei Männer mit einer Flasche in ihrer Hand. Sie sind einander zugewandt und scheinen sich zuzuprosten.
George Condo, Double Elvis, 2019, Foto Vanessa Braun, © George Condo.

Das Menschensandwich

Ed Atkins begegnet uns in einem der ersten Ausstellungsräume vorerst mit einem seiner verstörenden Videos eines weinenden Jungen. Drängt man sich durch die Massen von sorgfältig angeordneten Kostümen findet man weitere Bildschirme, die verstörende Videos von kuriosen Sandwiches, den Innenraum einer Holzhütte und einen manisch rennenden Jungen zeigen. Mit dieser raumgreifenden Installation versetzt der Künstler die Besucher*innen der Ausstellung in eine vertraute, aber auch verstörende und zugleich befremdliche Welt der Absurditäten. Um seinen Weg durch die Gruppenausstellung fortzusetzen, muss man sich durch Kostüme und Menschenmassen zurück auf einen breiteren Pfad durchschlagen.

Die Ruhe vor dem Sturm

Dort angekommen passiert man ein leuchtendes Skelett des Künstlers Tavares Strachan, das inmitten eines dunklen Raums zu schweben scheint und einen überdimensionalen Flugzeugpassagier, der seinen Kopf zwischen den Knien vor äußeren Einwirkungen schützt. Der Weg durch die Gruppenausstellung wird stets von einer bedrohlichen Geräuschkulisse begleitet. Immer wieder ist lautes Knallen und Zischen zu hören. Dann verstummt das Inferno wieder für einige Minuten, sodass man fast vergisst, was einen erwartet. In einem der nächsten Räume steht man vor einem Thron aus Marmor, der an den Sessel erinnert, auf dem Abraham Lincoln im Lincoln Memorial in Washington Platz genommen hat. Allerdings befindet sich die Installation hinter einer mannshohen Plexiglasscheibe, sodass sich die Betrachter*innen stets in einer sicheren Entfernung zu dem Sitzmöbel aufhalten.

Einige Minuten lang passiert nichts. Die Besucher*innen passieren das Kunstwerk mit skeptischen Blicken, bleiben eventuell einen kurzen Moment stehen, befassen sich allerdings nicht intensiver mit der Installation. Die Künstler Sun Yuan und Peng Yu spielen in ihrem Werk mit diesen Reaktionen. Der Thron strahlt eine gewisse Geborgenheit aus, die das Bedürfnis weckt sich darauf niederzulassen. Dieses Gefühl kehrt sich allerdings schlagartig ins Gegenteil, denn ein Schlauch, durch den Druckluft schießt, verwandelt sich mit lautem Zischen zu einem bedrohlichen Wesen, das aus dem Thron hervorpeitscht. Wild schlägt der Schlauch gegen die Glasscheiben und zieht zahlreiche Besucher*innen an. Hypnotisiert starren sie die Installation an und wiegen sich nun in der Gewissheit, dass ihnen das hysterische Schlauchwesen nichts anhaben kann, sodass sie weiter durch die Gruppenausstellung streifen.

Ein langer Schatten

Tritt man dann nach geraumer Zeit in das Tageslicht fällt ein langer Schatten über den heißen Kiesboden. Wendet man den Blick daraufhin gen Himmel erblickt man das Schiffswrack eines Flüchtlingsboots. Ein riesiges Loch klafft an der Seite des Wracks. Durch dieses wurden die menschlichen Überreste der verunglückten Flüchtlinge geborgen. Als Mahnmal für die über 700 Verstorbenen, die europäische Flüchtlingspolitik und unser aller Teilschuld an dem Geschehen platziert der Schweizer Künstler Christoph Büchel in Zusammenarbeit mit der Assessorato Regionale die Beni Culturali e dell´ Identita Siciliana das Schiffswrack im Blickfeld der Biennale Besucher*innen. Auf diese Weise findet die humanitäre Krise unserer Zeit den Weg in das Bewusstsein aller Passant*innen, denn es ist kaum möglich der Konfrontation mit dem Kunstwerk zu entgehen. Mit diesen gesellschaftskritischen Gedanken und bewegenden Gefühlen gehen wir in den Abend und schlendern vorbei an zahlreichen Länderpavillons durch die im Abendrot leuchtende Stadt.

GIARDINI

Das historische Ausstellungsareal empfängt uns leise und sanft. Vorbei an dem monumentalen Gebäude des italienischen Pavillons streifen wir über das großzügige Gelände am Rande der Stadt, bis wir den venezianischen Pavillon erreichen. Eine Auswahl von sieben internationalen Künstlern wurde ausgewählt, um den Venedig selbst auf der 58. Biennale Arte zu vertreten. Im Inneren eröffnet sich den Betrachter*innen eine intime und zugleich irritierende Welt.

Zu sehen ist ein Tunnel aus Kunststoff, Wasser auf dem Boden außerhalb des Tunnels und ein Holzpfahl, der sich ebenfalls außerhalb der Kunststoffhülle befindet.
Innenansicht Venezianischer Pavillon, Foto Vanessa Braun

Der Kanal

Durch eine schmale Öffnung zwängt sich der*die Besucher*in in einen Kanal aus Plastik. Der Boden ist knöchelhoch mit Wasser bedeckt. Allerdings wartet man nicht durch das dunkle Nass, sondern bewegt sich auf der dünnen Hülle aus Plastik über das Wasser. Ebenfalls außerhalb der Hülle, die die Besucher*innen schützend umgibt, tauchen beim Durchschreiten des Kanals immer wieder Holzpfähle auf, die Assoziationen mit den Kanälen der alten Handelsmetropole Venedig eröffnen. So wird eine Wechselwirkung zwischen der Öffentlichkeit, dem Stadtraum, dem Material und den Betrachter*innen entwickelt, der beim Betreten der Installation nicht nur visuell, sondern mit allen Sinnen erfahrbar wird.

Die jungen Meister

Am gegenüberliegenden Ende des Ausstellungsgeländes befindet sich der russische Pavillon. Der Künstler Alexander Shishkin-Hokusai schafft hier eine mysteriöse gebäudefüllende Installation. Der Titel Lc.15,11-32 verweist auf die Passage des Lukas Evangeliums, die sich mit dem Gleichnis des verlorenen Sohns befasst. Rembrandt setzt sich in einem seiner berühmtesten Werke, der Rückkehr des verlorenen Sohns zwischen 1663 und 1669 mit dieser Thematik auseinander, sodass der russische Pavillon diese beiden Aspekte in einer raumgreifenden Installation vereint.

Eine Wendeltreppe bringt den/die Besucher*in in das Untergeschoss, das das Gefühl vermittelt man befinde sich in einem Schiffsrumpf. Großformatige Gemälde, die in rotes Licht getaucht sind, verweisen dabei sowohl auf die Krisen der modernen Welt, als auch auf die traditionelle Flämische Schule, die in der Kunstgeschichte eine maßgebliche Rolle spielt. Durch stetige Seitwärtsbewegung der Bilder entsteht der Eindruck man würde sich tatsächlich im Rumpf eines historischen Schiffes befinden. 

Roboter und Marslandschaft

Der italienische Pavillon versammelt letztendlich die Künstler der Gruppenausstellung im Arsenale nochmals in einem monumentalen Gebäude. Beim Betreten des Pavillons eröffnen sich dem/der Besucher*in mehrere Wege durch die zahlreichen Räume und Etagen. Vorbei an einer Vielzahl an Zeichnungen von Ed Atkins, die im gesamten Gebäude verteilt sind, folgen wir abermals der verstörenden Geräuschkulisse hin zu einem Roboter. Bei intensiverer Auseinandersetzung wird klar, dass es sich auch bei diesem Werk um eine Arbeit von Sun Yuan und Peng Yu handelt, die bereits im Arsenale für die beeindruckenden Geräusche verantwortlich waren. Der Roboter im italienischen Pavillon beschäftigt sich zeitlebens damit die blutähnliche Flüssigkeit, die sich permanent aufs Neue um ihn herum ergießt, aufzuwischen. Fast menschlich verrichtet er diese Sisyphosarbeit und führt währenddessen eindrucksvolle Balztänze vor seinem Publikum auf. 

Einige Räume davon entfernt breitet sich eine beruhigende Stille aus. Der Raum wird vom rötlichen Licht des Dioramas einer Marslandschaft erhellt. Die betörende Wirkung des raumgreifenden Werks von Dominique Gonzalez-Foerster und Joi Bittle lässt einen lange verweilen und die hypnotische Stille genießen. Bei genauerer Betrachtung der liebevoll zusammengefügten Kleinigkeiten entdeckt man allerdings ein Buch mit dem Titel „The Martian Cronicles“ aus dem Jahr 1950. Darin befasst sich der Autor mit der Erschließung des fernen Planeten, sodass Assoziationen der Besiedelung der Erde, die Auswirkung des menschlichen Lebens auf den leeren Planeten und die Zerstörung der friedlichen Welt entstehen. 

Nebelschwaden

Bei diesen tiefgründigen Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft, der Umwelt und dem Selbst in diesem Umfeld, haben wir das Gefühl für die Zeit vollkommen verloren und treten wieder in die heiße Sommersonne. Allerdings wird unsere Haut von einem feuchten Nebel benetzt, der vom Dach des italienischen Pavillons bis auf den Boden strömt und den gesamten Eingangsbereich in das undurchsichtige weiße Nass hüllt. Die Installation von Lara Favaretto verabschiedet uns pompös und begleitet uns auf dem Weg zum Hotel mit einem wohltuenden Gefühl auf der Haut.

Mit all diesen teils grundlegenden, teils wohltuenden Gedanken verlassen wir die alte Stadt und die zeitgenössische Kunst gen Deutschland. Das Gefühl der Biennale begleitet uns auch in der Heimat und ruft auch Tage später noch eine Sehnsucht nach der Stadt, der Sonne und vor allem der Kunst und ihren Eindrücken hervor. Zwei Jahre muss dieses Verlangen nun immerhin anhalten, denn 2021 werden wir die alte Dame Venedig und ihre jungen Kinder der Kunst auf ein Neues besuchen und erfahren können.