COMEBACK – Kunsthistorische Renaissancen

Die Tübinger Kunsthalle zeigt bis zum 10. November 2019 die Ausstellung COMEBACK - kunsthistorische Renaissancen. Kuratorin Nicole Fritz beweist hier ihr gutes Gespür für Gegenwartskunst und präsentiert 30 internationale Künstler*innen und rund hundert Werke.

Die Tübinger Kunsthalle zeigt bis zum 10. November 2019 die Ausstellung COMEBACK – kunsthistorische Renaissancen. Kuratorin Nicole Fritz beweist hier ihr gutes Gespür für Gegenwartskunst und präsentiert 30 internationale Künstler*innen und rund hundert Werke. Im Fokus steht deren bewusste Beschäftigung mit Meisterwerken von der Antike über alte Meister bis zum 19. Jahrhundert. Sie kopieren, zitieren, reanimieren, assimilieren, interpretieren, überarbeiten, persiflieren und gestalten um. 

Das Label der Appropriation Art, die Kunst der Aneignung, ist eine Kunstform die momentan wieder große Konjunktur erfährt. Vorhandene Kunstwerke zu interpretieren, umzugestalten oder schlicht als Inspirationsquelle zu nutzen war hingegen schon immer eine gängige Praxis in der Kunstlandschaft. Seit den 1960er Jahren kehrt die Kunst der Appropriation Art immer wieder in das Bewusstsein zurück. Eigentlich ein damals eher kritisch theoretisches Instrument sich Kunst zu nähern, beweist die Ausstellung nun den praktisch künstlerischen Anteil der Appropriationsidee. Hier werden Autorenschaften neu hinterfragt, Eingriffe in vorhandene Ikonen vorgenommen, Authentizität durchleuchtet und eine kritische, teilweise analytische Auseinandersetzung mit Kunstwerken zugelassen. 

Detail eines Blumenstillebens mit Szenen aus einem zeitgenössischen Film.
Ged Quinn, No One has heard of you, Detail, 2004-2007, Öl auf Leinwand,©Olbricht Collection. Foto: Sara Heinzelmann-Wilhelm.

Aneignung als Partizipation. Aneignung als Reanimation. Aneignung als Identifikation.

Medial ist in der Ausstellung fast alles vertreten. Von klassischer Malerei mit Öl auf Leinwand, graphische Techniken, Fotografien, Digitaldrucke über Plastiken, Skulpturen, bis hin zu Installationen und Videokunst bietet COMEBACK für alle etwas. Die Vielfalt der Werke ist unterteilt in drei Themenfelder und hilft dem*der Besucher*in Intentionen der Künstler*innen nachzuvollziehen und die Ausstellung übersichtlicher zu halten. 

Alte Meister mit neuen Medien wiederbeleben

Irene Andessner, Art Protectors II, Tableaux vivants nach Jan Adam Kruseman, HD -Video Loop, Detail, 2019, Kunsthalle Tübingen. ©Kunsthalle Tübingen.

Die Österreicherin Irene Andessner empfängt die Kunstinteressierten gleich zu Beginn hinter einem grauen Vorhang mit ihrer aufwendigen Videoinszenierung eines tableau vivants. Nicht nur die Besucher*innen dürfen nun als lebendige Partizipation der Kunstgeschichte agieren, sondern auch die Darsteller, allesamt Kunstförderer der Tübinger Kunsthalle, die sich nach dem Vorbild eines holländischen Meisters von 1852 formieren ließen. Mindestens ein bekanntes Gesicht dürfte jedem*r Tübinger*in sofort ins Auge fallen…

Spuren hinterlassen, Spuren löschen, ergänzen

Die im ersten großen Saal hängenden, großformatigen Digitaldrucke von José Manuel Ballester lassen Raum für Diskussion. Der Künstler löscht digital sämtliches Figurale aus und präsentiert damit nackte Kulissen ehrwürdiger Meisterwerke. Drei seiner großformatige Werke zeigt COMEBACK, bei denen Kunstinteressierte stutzig werden. Ein Hieronymus Bosch ohne Dämonen und Fabelwesen, alle Symbole und geheimnisvolle Figurenkonstellationen ausgelöscht? Was zeigt uns Primavera von Sandro Botticelli gänzlich ohne Nymphen, Göttinnen und Allegorieverständnis? Der Künstler möchte uns von der versteiften Bildsprache lösen. Den*Die Betrachter*in in eine bewusste Beschäftigung mit dem zu Sehenden bringen, indem er damit spielt Bekanntes auszulöschen und das Gemälde in uns neu wachsen zu lassen. Funktioniert die Theorie? Was ist die größere geistige Hürde? Jahrhunderte lange Forschung und Auseinandersetzung mit Künstler*innen und deren überragenden rätselhaften Gemälden stehen nun einer leeren Fläche gegenüber. 

©José Manuel Ballester, Primavera, 2015, Digitaldruck auf Leinwand, 203 x 314 cm, Leihgabe des Künstlers. Foto: Sara Heinzelmann-Wilhelm.

Einen weiteren Überraschungseffekt erzeugt auch Wim Delvoye mit seiner pulverbeschichteten Bronzeplastik von Amor und Psyche, bei der er nicht nur eine Marmorskulptur suggeriert, sondern die figura serpentinata mit einer spiralartig verdrehten Form auf den Höhepunkt bringt. 

©Wim Delvoye, Le Ravissement de Psyché par le baiser de l’Amour, Detail, 2016, pulverbeschichtete Bronze, 76 x 60 x 70 cm, Leihgabe des Künstlers. Foto: Sara Heinzelmann-Wilhelm.

Aus Alt mach Neu

Mit mehreren Gemälden ist der österreichische Künstler Markus Schinwald vertreten. Seine Werke basieren auf selbst gekauften kleinformatigen Flohmarktfunden aus dem 19. Jahrhundert, die er entweder in einem aufwändigen Verfahren von Restauratoren in neue Leinwände verweben lässt oder mittels Übermalung verändert. So wird hier aus einem in neue Leinwand verwobenen Portrait eines Sitzenden, ein an Caspar David Friedrich erinnerndes, atmosphärisches und großformatiges Gemälde, das durch den vom Künstler ergänzten Raum auf eine neue Ebene gehoben wird.

In meinen Augen hervorzuheben ist auch Slawomir Elsner, der in der Ausstellung ebenfalls mit mehreren Werken vertreten ist. Der deutsch-polnische Künstler arbeitet bei seinen Buntstiftzeichnungen auf innovative Art und Weise. Was im ersten Moment als unscharfe Fotografie eines Leonardo da Vinci, Dame mit Hermelin, oder eines Michelangelo Merisi da Caravaggio, Amor als Sieger wirkt, spielt genau mit dieser scheinbar verwirrenden verschwommen Technik. Die Seherfahrung, die sich dem*der Betrachter*in hier offenbart, hinterfragt die typische museale Begegnung mit einem Kunstwerk. Je intensiver man sich den Werken zuwendet, erkennt man dass das unscharf Scheinende sich zu einem mit größter Präzision gezeichneten Liniengeflecht wandelt. Keine Körperformen, keine Rundungen, kein Gesicht und auch kein einziger gebogener Strich und dennoch erweckt es den Eindruck, hinter diesem Vorhang aus geraden Linien verberge sich die Dame mit Hermelin. Die Seherfahrung spielt auch bei Slawomir Elsners Werk, Die Freiheit führt das Volk, eine nicht unwesentliche Komponente. Vor dem großformatigen Wandbild stehend, fügen sich die Formen und Schatten nach der von Eugène Delacroix gemalten französischen Ikone zusammen. Je näher der*die Betrachter*in diesem kommt, desto offensichtlicher wird die Textur und die Gewissheit, dass es sich hier um ein anderes Medium als die Malerei handelt. Eine Tapete aus Papier mit ganz neuer Bedeutung.

Kunstwerke re-animieren

Die Gruppe der Reanimation bezieht sich nicht nur auf statische Kunstobjekte, sondern auch auf die Videokunst. Werke von Pia Maria Martin und Antoine Roegiers zum Beispiel, inszenieren, beziehungsweise animieren mittels Trickfilm und Videotechnik alte Meister neu. Die Künstlerin Pia Maria Martin präsentiert dabei in drei nebeneinander projizierten Filmen Motive aus der niederländischen Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts. Entgegen der ursprünglichen Intention werden diese hier zum Leben erweckt, schmatzende Hummer gezeigt und die Vergänglichkeit bis zum bitteren, Blumen verwelkenden, Ende inszeniert. Die Vanitas als menschliche Eitelkeit und Vergänglichkeit sollte auf das ewige Leben und die irdische Endlichkeit verweisen, den*die Betrachter*in zum nachdenken anregen und als Andachtsbild fungieren.

Vielfalt an Gegenwartskunst

Nicole Fritz hat mit der Ausstellung COMEBACK – kunsthistorische Renaissancen kein neues internationales Terrain betreten, aber bringt eine Vielfalt an Gegenwartskunst nach Tübingen, die als sehenswert eingestuft werden kann. Das künstlerische Aneignen von Kunstwerken in unterschiedlichsten Medien kann dazu sowohl wohlwollend, als auch kritisch hinterfragt werden. Die Eingriffe oder Veränderungen der Meisterwerke führen nicht dazu, Autorenschaften zu bezweifeln oder eine bewusste Kopie zu unterstellen und dennoch benötigt diese Art der Kunst immer einen Referenzpunkt aus vorangegangener Zeit. Wo bleibt hier die Eigenleistung könnte man fragen? Darüber kann man sich vermutlich trefflich streiten, letztlich, zumindest in den meisten Fällen zählt das Konzept. Die Idee, wie ich finde. Die Kritik an der Kunstlandschaft, dem Kunsthandel, dem Wahnsinn der Auktionshäuser. Die Kuratorin zeigt neue Umgangsformen mit Ikonen der Kunstgeschichte die auf verschiedenste Weise neu interpretiert, überlagert und umgestaltet werden. COMEBACK ist eine innovative Bestandsaufnahme und lockt damit hoffentlich viele Kunstinteressierte, Kritiker*innen und Verehrer*innen.

Die Ausstellung COMEBACK – kunsthistorische Renaissancen ist noch bis zum 19. November 2019 in der Kunsthalle Tübingen zu sehen. 

*u.a. Boris Palmer, Oberbürgermeister der Stadt Tübingen.