Vertigo – Die Ambivalenz der Wirklichkeit

Das mumok in Wien zeigt eine grandiose Ausstellung zu einer Kunstströmung der 1950er und 1960er-Jahre, die bislang nur wenig Bedeutung erfahren hat: die Op Art.

Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520 – 1970

Mit der Ausstellung Vertigo – Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520 – 1970 gelingt dem mumok in Wien eine grandiose Schau mit Kunst, die den Besucher*innen die Grenzen der Wirklichkeit buchstäblich vor Augen führt. Nicht zufällig ist der Titel der Ausstellung an Alfred Hitchcocks gleichnamigen Film Vertigo – Aus dem Reich der Toten aus dem Jahr 1958 angelehnt. Wie Hitchcock spielen auch die Kurator*innen des mumok mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs Vertigo/ Schwindel. Zum einen als physisches Phänomen zum anderen als absichtliche und kognitive Täuschung. 

Carlos Cruz-Diez, Physichromie Nr. 417, 1968, Öl, Kunststoff auf Holz,
121 x 122 x 7 cm, mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Leihgabe der Österreichischen Ludwig-Stiftung seit 1981
Photo: mumok © Bildrecht Wien, 2019

Mehr als nur oberflächlich

Von all den Stilrichtungen, die den 1950er- und 1960er-Jahre entsprungen sind, mag der Op Art bislang am wenigsten Bedeutung beigemessen worden sein. Oft wurde sie als zu spektakulär und oberflächlich abgetan. Dabei ist gerade sie eine Kunstströmung, die die Betrachter*in in einer ganz besonderen Art und Weise anspricht und ihre aktive Teilnahme herausfordert. Umberto Eco formulierte dies bereits 1962 in seinem Buch Opera Aperta als eine notwendige Bedingung für deren Vollendung.

Das Labyrinth als Sinnbild der Op Art

Im ersten Teil der Ausstellung, der sich im Erdgeschoss des mumok befindet, werden die Besucher*innen durch ein Labyrinth geschickt – ein im Manierismus aber auch in der Op Art beliebter Topos. Kunstwerke von Bridget Riley, Josef Albers oder Victor Vasarely treten in einen Dialog mit präzise ausgewählten Tafelbildern oder Reliefs aus dem 16. bis 18. Jahrhundert und einigen Kunstwerken, die der abstrakt orientierten Entwicklung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugerechnet werden können. Die Betrachter*in bewegt sich in diesem Labyrinth frei. Die Perspektive zum Kunstwerk kann und soll verändert werden. Somit ergeben sich immer wieder neue Sichtachsen. Der Blick verschiebt sich: manchmal gewollt, manchmal unabsichtlich. Was bleibt ist die Erkenntnis, dass Effekte zur optischen Täuschung, das Spiel mit der Perspektive und die bewusste Irritation des Betrachters keineswegs mit der Begründung der Op Art einsetzt. Künstler*innen entwickelten jene Konzepte bewusst als Gegenstück zur klassisch definierten Kunst der jeweiligen Epoche, wie beispielsweise Parmigianinos berühmtes Selbstbildnis im Konvexspiegel von 1523/24 beweist.

Francesco Mazzola gen. Parmigianin, Selbstbildnis im Konvexspiegel, um 1523-24, Öl auf Pappelholz, Durchmesser 24,5 cm © KHM-Museumsverband

Wer bleibt hier schwindelfrei?

An der Kasse bekommt jede Besucher*in ein Booklet in die Hand gedrückt, welches warnt: Durch das Betrachten einiger der hier ausgestellten Kunstwerke kann es durch visuelle Reize zur Auslösung von körperlichen Beschwerden kommen. Einige Beispiele: Schwindel, starkes Drehgefühl, Gleichgewichtsstörung, Erbrechen, Ohnmachtsgefühl. 


Im zweiten Teil der Ausstellung wird dann auch klar warum. Der Übergang von der Zweidimensionalität zu dreidimensionalen, kinetischen Objekten, Erfahrungsräumen, Videos und computergenerierter Kunst verlangt der Betrachter*in alles ab: Ambiente a shock luminosi (Raum mit Lichtschocks) von Giovanni Anceschi (1964) ruft eine geradezu schwindelerregende Wirkung hervor. Die eigene Orientierung geht beinahe verloren. Tony Conrads Experimentalfilm The Flicker (1966) arbeitet mit sogenannten Stroboskopen, die in regelmäßigen Abständen Lichtblitze abgeben. Diese Lichtimpulse werden teilweise als Muster oder Farben wahrgenommen, wobei sie nicht durch das Auge aufgenommen werden, sondern sind eine neurale Aktivität des Gehirns.

Auflösung der Grenzen von Zeit und Raum

Victor Vasarely, Biadan, 1959, Acryl auf Leinwand, 205 x 205 cm
© Janus Pannonius Museum, Pécs/Bildrecht Wien, 2019

Die Kunstwerke der Op Art können den menschlichen Körper an die Grenzen seiner Wahrnehmung bringen. Die Kategorien Zeit und Raum verschwimmen und werden aufgelöst. Vertigo führt vor Augen, wie wenig objektiv die jeweilige Wahrnehmung ist und mit welch einfachen Mitteln sie destabilisiert und getäuscht werden kann. Was ist also die Wirklichkeit?

Vertigo – Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520 – 1970 ist noch bis zum 26. Oktober im mumok in Wien zu sehen und befindet sich im Museumsquartier in Wien direkt neben der Mariahilfer Straße und in direkter Nachbarschaft zum Leopold Museum

Ausstellungsansicht: Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520–1970, mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, 25.5.–26.10.2019
Julio Le Parc, Lumière en mouvement – Installation, 1962/1999, Edition 1/9
Photo: Markus Wörgötter
© mumok/Daros Latinamerica Collection, Zürich/Bildrecht Wien, 2019

Wer es übrigens bis Ende Oktober nicht nach Wien schafft: Die Ausstellung ist in Kooperation mit dem Kunstmuseum Stuttgart entstanden und wird deshalb ab Ende 2019 in unserer Landeshauptstadt gezeigt. Wir dürfen gespannt sein, wie die Kolleg*innen aus Stuttgart das spannende Thema um die Geschichte des Schwindels umsetzen werden.