KUNST REUTLINGEN – VOLUME II

80 Werke von 50 Künstler*innen werden in zwei Teilen in der Ausstellung KUNST REUTLINGEN 2020 im Kunstverein Reutlingen präsentiert. Elf Teilnehmer*innen und deren Arbeiten stellen wir euch heute vor.

Hier ist er, der zweite Teil unserer Vorstellung der 50 Künstler*innen und ihrer 80 Werke. Wir präsentieren euch elf weitere Positionen der Ausstellung KUNST REUTLINGEN 2020 im Kunstverein Reutlingen.

Elf weitere Künstler*innen, die mit ihren Werken einen aktuellen Überblick über das regionale Kunstgeschehen präsentieren. Viel Freude beim Lesen und vor allem viel Freude beim Betrachten der Arbeiten in live. Doch sputet euch, denn sie hängen nur noch bis zum 28. Juni dort. Ab dem 4. Juli werden die nächsten 28 Positionen präsentiert.

Volker Illi – tief, kalt und frisch.

Volker Illi. Tief, kalt und frisch. 2018, Tinte, Tusche auf Papier. © Volker Illi, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Drei fast deckenhohe Papierbahnen ziehen einen magisch an, wenn man vor Volker Illies Arbeiten steht. Tief. Kalt. Frisch. Adjektive, mit denen jede*r Emotionen verbindet. Und eben diese kommen augenblicklich auf, wenn man vor diesen Werken steht.

Tinte und Tusche sind jeweils in solch passender Farben gewählt, dass Rezipient*innen sofort abgeholt werden und in die eigene Gefühlswelt eintauchen. Fließend, eben wie Flüssigkeit, scheinen sich die Pigmente von oben nach unten zu bewegen. Vielleicht evozieren sie gar ein Frösteln?

Friederike Just – Boys I & II und Rauhnächte.

Wild und auf den ersten Blick grob treten einem die Arbeiten von Friederike Just entgegen. Mit starken Pinselstrichen formt die Künstlerin surreal anmutende Szenen. Schein und Sein. Ist das hier die Frage? Surreal und dennoch real sind die Protagonisten in Friederike Justs Werken. Symbolisch. Nur für was? 

Boys I & II zeigen je eine Figur. Die eine reitet auf einem verfremdeten Wildschwein, die andere sitzt neben einem schlafenden Rehkitz unter Pilzen. Verloren? Oder auf der Suche? Oder befinden sich die beiden Boys in ihrer Traumwelt?

Rauhnächte zeigt vier verhüllte Figuren. Trotz der Verschleierung der Gesichter ist Mimik zu erkennen. Trauer, Leid, Klagen? Oder sind sie in Gedanken versunken? 

Dargestellt sind Momente, die im ersten Augenblick befremdlich wirken, wenn nicht gar verstörend? Sie sind unbeschönigt und einfach direkt. Festgehalten werden kann, dass die Arbeiten der Künstlerin zum Nachdenken anregen und zum Eintauchen… tief in die Welt von Friederike Just.

Carmen Kübler – Ohne Titel und Ohne Titel.

Alltagsgegenstände, gepaart mit für Kunstwerke ungewöhnlichen Materialien wie Haar, präsentiert Carmen Kübler in ihren beiden Arbeiten. Das zweigeteilte Werk Ohne Worte zeigt zur Linken einen gewöhnlichen Din A4 Briefumschlag. Die allseits bekannte Lasche, die zum Verschließen da ist, sowie die ersten paar Zentimeter im oberen Bereich, sind braun verfärbt. Bei genauerer Betrachtung erkennt man Wachs. Hat Carmen Kübler den Umschlag in eben dieses getaucht? Gleich daneben ist ein Rechteck. Eine schwarze Linie spannt die Ebene auf. Gezeichnet? Nein: Genäht. Haarbündel wurden mit einem weißen Faden direkt auf das Papier gehaftet. Ein Rahmen. Für eine Erzählung? Für wichtigen Inhalt, der übermittelt werden soll?

Carmen Kübler. Ohne Titel. 2019, Mischtechnik. © Carmen Kübler, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Das zweite Werk Ohne Titel zeigt ein ehemals gefaltetes und zerknülltes Papier. Die vielen Höhen und Tiefen erzählen seine Geschichte. In der unteren Hälfte wird es von Flecken geziert. Kaffeeflecken? Dennoch scheinen sie nicht zufällig auf den Untergrund gekommen zu sein. Dafür treten sie zu regelmäßig auf. In unterschiedlicher Intensität und in verschiedenen Größen sitzen die Flecken nebeneinander, bilden zusammenhängende Spalten. Ein Code, eine Geheimschrift, die nur Ausgewählten weitere Informationen erteilt?

Beate Leinmüller – Rotes Rund und Gelbes Rund.

Beate Leinmüller. Rotes Rund. 2019, Eschenholz – gesägt, farbig gefasst. © Beate Leinmüller, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Groß, organisch und mit einer unglaublichen Leuchtkraft liegen Rotes Rund und Gelbes Rund auf dem Boden. Sie wirken im ersten Moment schwer, dominieren den Raum. Bei genauerer Betrachtung verkörpern sie jedoch Leichtigkeit durch die minimale Berührung mit dem Untergrund. Die zu erkennenden Holzstrukturen verbinden die Rezipient*innen mit der Natur, die von Beate Leinmüller verfremdet in den Ausstellungsraum geholt wird. Ihre Form ist zwar organisch, dennoch tritt eine Pappel oder eine Esche in der freien Wildnis nicht in dieser Form auf. Sie wirken weich und sanft durch die perfekt geschliffene Oberflächenstruktur.

Beate Leinmüller. Gelbes Rund. 2019, Pappel – gesägt, farbig gefasst. © Beate Leinmüller, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Eine Stelle bricht aber aus dem Wohlfühlkontext aus. Beide Körper reißen brachial auf. Tiefe Furchen durchziehen sie. Rau und unbehandelt präsentieren sie sich, geben Einblick in das Innere. Ein unglaublicher Kontrast. Ein Kontrast aus perfektem Äußeren und unsicherem Inneren? 

Peter Magiera – Stilles Feld.

Peter Magiera. Stilles Feld. 2019, Seidenpapiercollage auf Graupappe. © Peter Magiera, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Papier schichtet sich über Papier. Ein Zusammenspiel aus Graupappe und Seidenpapier. Stabil, hart, undurchsichtig vs. fein, fragil, hauchdünn und lichtdurchlässig. Präsentiert werden sie in kleinen Quadraten, die sich wie ein Mosaik, wie ein Schachbrett zu einem großen Quadrat zusammenfügen. Reihe an Reihe, doch keines dieser kleinen Bestandteile gleicht seinem Nachbarn. Ganz individuell wurden sie geschichtet. So entstehen unterschiedliche Graustufen – tausend kleine Geschichten, die zu einer gemeinsamen Erzählung werden.

Antonia Nannt – Englischer Garten (decorated farm).

Antonia Nannt. Englischer Garten (decorated farm). 2019, CNC-gefräste MDF-Platten, Siebdruck, Lack, modulares Stecksystem. © Antonia Nannt, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Aus gewöhnlichem MDF wird ein Kunstwerk. Holzfaserplatten werden zu Trägern  der künstlerischen Position von Antonia Nannt. Aus dem Werkstoff lässt sie ein dreidimensionales Objekt entstehen, das im ersten Moment an ein Architekturmodell erinnert – logisch nach einem Raster aufgebaut. Doch bei genauerem Anblick sind neben den Öffnungen, neben den möglichen Durchblicken, organische Formen zu erkennen. Sie erinnern an Blüten, an Blätter, an Vierpässe und an Wellen. Ein Nebeneinander oder gar ein Gegenüber von frei Entstandenem und Konstruiertem? Eine Konversation aus Geschaffenem und Natürlichem? Ein gemeinsames Existieren von Natur und von Menschenhand Erbauten, so wie in einem Großstadtdschungel, ein Englischer Garten?

Wer Antonia Nannt und ihre Arbeitsweise noch etwas besser kennenlernen möchte, findet in unserem Interview mit der in Berlin lebenden Künstlerin weitere Einblicke.

Tanja Niederfeld – alb_tief_schwarz II.

Tanja Niederfeld. alb_tief_schwarz II. 2020, Holzschnitt, Öl auf Holz, 4-teilig. © Tanja Niederfeld, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Vier schwarz lackierte Druckstöcke aus Holz dominieren eine ganze, weiße Wand des Kunstvereins. Druckstöcke, die nicht abgedruckt wurden, sondern ihren eigenen Auftritt erhalten und so ihre  Einzigartigkeit behalten. Eine Hommage an den Druckstock, der sonst vergänglich ist, nach Ausführung seiner „eigentlichen“ Aufgabe gerne mal in Vergessenheit gerät, weil ihm das Endprodukt, der Druck selbst, die Show nimmt, den großen Auftritt verwehrt. 

Tanja Niederfeld. alb_tief_schwarz II (Detail). 2020, Holzschnitt, Öl auf Holz, 4-teilig. © Tanja Niederfeld, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Die lackierten Holzplatten sind Träger ganz individueller Impressionen der Schwäbischen Alb. Doch sie fangen nicht eine bestimmte Ansicht ein, sondern präsentieren die Quintessenz wechselnder Standorte und verschiedener Beobachtungsmomente. So geht es steil bergauf und runter bis ins Tal. Jede*r fliegt über die Hügel der unvergleichlichen Alb. Reduziert, dennoch harmonisch und eine Einladung zur eigenen Erkundung dieser einzigartigen Landschaft.

Esther Rollbühler – Einode.

Esther Rollbühler. Einode. 2019, Pappe, Papier, Filzstift, Draht, Holzleim, 38-teilig. © Esther Rollbühler, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Wassertropfen, die an der Wand langsam nach unten gleiten? Insekten, die es sich auf dem Weiß gemütlich gemacht haben? Umso näher man dem 38-teiligen Werk Einode von Esther Rollbühler kommt, desto mehr erkennt man: Es handelt sich nicht um Tropfen oder Insekten , die den Kunstverein erobern, sondern 38 individuelle Welten – kleine organische Formen. Sie erinnern an Kapseln, Spindeln und an Mikroorganismen.

Man könnte fast von Bühnen sprechen. Gerahmt spielen sich in jedem Inneren ganz eigene Szenen ab. Räder drehen sich, Wesen schweben vor Fenstern oder erobern kriechend den Boden. Jede*r Besucher*in entdeckt eigene Erzählungen, die hier aufgeführt werden. 

Michaela Ruhrmann – Ohne Titel, Ohne Titel und Ohne Titel.

Im Zentrum der Arbeiten von Michaela Ruhrmann steht die Geometrie. Geschnittenes und geschichtetes Millimeterpapier und Karteikarten spannen in ihrer jeweiligen Kombination Räume auf, die Betrachter*innen mit ihren Blicke zu erobern suchen. 

Michaela Ruhrmann. Ohne Titel. 2019, Papier-Collage. © Michaela Ruhrmann, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Die Papier-Collage Ohne Titel wird in einem handelsüblichen Rahmen präsentiert. Durch das blaue Gitter sind andersfarbige Schichten zu erkennen, die sich unendlich in die Tiefe erstrecken. Dennoch versperrt das blaue Gitter, denn es lässt keinen Zutritt zur Szene zu. Es ist lediglich ein Beobachten des Geschehens dahinter möglich.

Ohne Titel. 2019, Papier-Collage, Plexiglas. © Michaela Ruhrmann, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Eingepackt, ja eingeschlossen in Plexiglas sind die orangefarbenen, ordentlich aufeinander gestapelten Karteikarten in der Arbeit Ohne Worte. Sie öffnen einen Raum, der einen in die Tiefe zieht, Schutz und Geborgenheit bietet. Einen Rückzugsort für unsere Gedanken? Können wir sie dort ablegen und speichern, sicher verwahren?

Michaela Ruhrmann. Ohne Titel. 2020, Stahl, lackiert. © Michaela Ruhrmann, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Ganz anders, doch ebenso geometrisch präsentiert sich das jüngste Werk Ohne Titel von Michaela Ruhrmann: ein Kranich, der sich mit einer unglaublichen Leichtigkeit vom Fußboden abhebt und das, obwohl er aus Stahl geschaffen wurde. 

Jutta Vollmer – Schaukasten.

Neun Schaukästen wurden drei auf drei an der Wand installiert. Neun Bilderrahmen, die je ihre eigene Szene präsentieren, in ihrer Kombination aber ein großes Ganzes – wie Kapitel in einem Buch. Es sind kleine Collagen, die mit unterschiedlichsten Materialien entstanden sind. Unter anderem mit Naturmaterialien, Farbpigmenten und Schnur fertigt Jutta Vollmer diese Szenen. Sie wirken wie Studien, wie entomologische Sammlungen.

Izumi Yanagiya – Duo.

Izumi Yanagiya. Duo. 2020, Collage und Tusche. © Izumi Yanagiya, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Zwei leuchtend rote Ringe dominieren ein Quadrat aus hellem Untergrund. Der Träger ist eine Collage aus handgeschöpftem Papier.

Die Ringe sind bekannt aus der japanischen Kalligraphie. Ensō ein Symbol, kein Buchstabe. Es steht für Erleuchtung, Stärke, Eleganz, das Universum und die Leere. Und es symbolisiert die japanische Ästhetik an sich.

Izumi Yanagiya. Duo (Detail). 2020, Collage und Tusche. © Izumi Yanagiya, Kunstmuseum Reutlingen | Galerie und Kunstverein Reutlingen.

Die japanische Kalligraphie fängt einen Zeitpunkt ein, hält diesen fest. Das liegt daran, dass die Tinte mit einem Pinsel in einer einzigen Bewegung auf Seide- oder Reispapier aufgetragen wird. Es existiert keine Möglichkeit der Abänderung oder der Korrektur. Duo zeigt also den künstlerischen Prozess Izumi Yanagiyas just im Augenblick des Erschaffens – einzigartig.